Kirchheim
Nicht nur ein Dach über dem Kopf

Gesellschaft Bei seinem Vortrag in der Christuskirche präsentierte der Heidelberger Sozio­loge Alex Füller Zahlen, Fakten und Ansätze zur Hilfe für Wohnungslose. Von Peter Dietrich

Zu einem Vortrag zum Thema „Wohnungslos und ausgegrenzt – wie können wir helfen?“ hatte der Rosa-Luxemburg-Club Kirchheim in Kooperation mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, der AWO Kreis Esslingen, dem DGB-Kreisverband Esslingen-Göppingen, dem Evangelischen Bildungswerk und der Katholischen Erwachsenenbildung eingeladen. Angesichts dieses breiten Kreises und des brennenden Themas hätte der Heidelberger Soziologe Alex Füller mehr als eine Handvoll Zuhörer verdient gehabt. Da half es auch nichts, dass Heinrich Brinker kurz vor Beginn aus der Christuskirche auf den Gaiserplatz ging, um die dort versammelte Klientel persönlich zum Vortrag einzuladen. „Das ist keine Veranstaltung für uns, wir sind nicht obdachlos“, bekam er zur Antwort.

Füller ist kein distanzierter Betrachter. 16 Jahre lang war er ehrenamtlich in der Wohnungslosenhilfe tätig, war Vorstand des Vereins „Obdach“. Doch der Autor des bei Klett-Cotta erschienenen Fachbuchs „Menschen ohne Obdach“ tat zuerst das, was Politiker vor Entscheidungen immer tun sollten: Er sah sich die Zahlen und Fakten ganz genau an.

Am Beginn stand die Annäherung an eine „Definition mit Unschärfen“: Was bedeutet es, wenn jemand obdachlos oder wohnungslos ist? Obdachlos ist ein Mensch ohne eigene Unterkunft, der in einer Gartenhütte, Tiefgarage, einem Abbruchhaus, auf einer Baustelle oder in einem Fahrzeug Unterschlupf findet. Als „wohnungslos“ gilt ein Mensch ohne Mietvertrag, oft mit sozialen Schwierigkeiten und erhöhtem Hilfebedarf. Es gibt auch eine verdeckte Wohnungslosigkeit, wenn jemand bei Verwandten oder Bekannten oder im Wohnwagen lebt. Dann gibt es noch den Wohnungsnotfall: Einem Menschen droht unmittelbar die Wohnungslosigkeit oder er lebt in unzumutbaren Wohnverhältnissen.

Im Jahr 2019 galten in Deutschland 678 000 Menschen als wohnungslos, davon 441 000 Geflüchtete und 237 000 Deutsche und EU-Bürger. Von Letzteren waren 41 000, also 17 Prozent, obdachlos. 75 Prozent waren männlich, 70 Prozent waren alleinstehend und acht Prozent minderjährig.

Die Stadt Ulm steht gut da

Dass die Betroffenen vor allem in großen Städten leben, überrascht nicht: In Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern sind in Baden-Württemberg pro 1000 Einwohner 1,9 wohnungslose Menschen „ordnungsrechtlich untergebracht“. In Orten unter 5000 Einwohner sind es nur 0,5. Überraschend sind aber die Unterschiede zwischen einzelnen Städten. Heidelberg kommt mit 6,1 auf einen Rekordwert – dort hat also einer von 164 Einwohnern keine Wohnung. In Stuttgart ist die Lage mit 5,7 nicht viel besser. Ulm kommt hingegen nur auf 1,4 Wohnungslose pro 1000 Einwohner. Aus Füllers Sicht ein wichtiger Grund: „Heidelberg ist eher marktorientiert, Ulm verfolgt eine gemeinwohl­orientierte Wohnungspolitik.“ Der Anteil mit niedriger schulischer Qualifikation – kein Abschluss, Förderschule oder Hauptschule – liegt bei Wohnungslosen mit 63 Prozent doppelt so hoch wie im Bevölkerungsdurchschnitt. 56 Prozent haben keinen Berufsabschluss. Bei den Abhängigkeiten liegt bei Wohnungslosen der Alkohol ganz vorne: 71 Prozent der Männer und 47 Prozent der Frauen sind von ihm abhängig, gefolgt von Cannabis mit 23 und 16 Prozent. Viele der Betroffenen, so Füller, seien zudem sehr hoch verschuldet. Bei solchen Problemen, so ein Ergebnis der lebhaften Diskussion, reicht ein „Dach über dem Kopf“ nicht aus, es braucht auch Sozialarbeit. Auf der anderen Seite gibt es immer mehr Menschen mit Arbeit und ohne soziale Probleme, die in der aktuellen Marktlage keine bezahlbare Wohnung mehr finden. Teils müssen sie in Unterkünften bleiben, die nur als Übergangslösung gedacht sind – und verstopfen damit die Hilfesysteme.

Leerstand erfassen

Carsten Krinn, AWO-Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzender der Liga der freien Wohlfahrtspflege im Landkreis Esslingen, verwies auf den massiven Leerstand. Manche potenziellen Vermieter sind eben auf die Mieteinnahmen nicht angewiesen. Doch wie den Leer­stand überhaupt erfassen? Brinker verwies auf die in Kirchheim angewandte, raffinierte Methode mit Hilfe der Stromzähler: Wo es einen Zähler ohne Verbrauch gebe, wohne wahrscheinlich auch niemand.