Wer einen niedergelassenen Arzt braucht, muss Glück haben: Besonders im Bereich der Hausarztpraxen, aber auch vieler Facharztpraxen, wird die Versorgung rund um die Teck schlechter. Die Rahmenbedingungen schrecken den Nachwuchs, vor allem Ärztinnen, vor der Übernahme einer Praxis ab; ältere geben entnervt auf. Ärzte prangern vor allem die überbordende Bürokratie an. Ein Lied davon singen kann Dr. Andreas Jost, der seit fast 25 Jahren als Facharzt eine psychotherapeutische Praxis in Kirchheim führt.
Hat die Bürokratie in Ihrer Praxis zugenommen?
Andreas Jost: Und wie! Der Dschungel an bürokratischen Anforderungen wuchert kontinuierlich. Einen Abbau bürokratischer Regeln konnte ich in meiner Berufstätigkeit noch nie verzeichnen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Jost: Viele! Ich beschäftige eine Reinigungskraft mit zwei Wochenstunden. Das politische Wirken der früheren SPD-Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles, hat dazu geführt, dass die Regeln der Berufsgenossenschaft auf diese Kraft angewendet werden müssen. Das bedeutet, dass sie einmal im Jahr „belehrt“ werden muss darüber, dass man beispielsweise von einer Leiter fallen kann beim Fensterputzen. Derlei „Belehrungen“ müssen formuliert, niedergeschrieben, von allen Beteiligten unterschrieben und sorgfältig abgeheftet werden. Damit alles korrekt abläuft, muss zuvor ein Fortbildungskurs bei der Berufsgenossenschaft belegt werden – später tun es dann Online-Seminare mit anschließender Prüfung des Praxisinhabers.
Spart denn die Digitalisierung Zeit?
Schön wär‘s. Diese Belastungen sind nichts im Vergleich zu den Folgen der Digitalisierung: 1997 habe ich für eine Quartalsabrechnung noch zwei Stunden und 20 Minuten einmal alle drei Monate benötigt. Inzwischen führt die Digitalisierung zu einer Belastung von mindestens zwei Stunden pro Woche für Updates, Testabrechnungen, Fernwartungstermine, Recherchen im Internet – es kann auch mal locker ein halber Arbeitstag pro Woche werden.
Haben Sie auch da ein Beispiel?
Leider auch viele. Die gesetzlich vorgeschriebene Telematikinfrastruktur erfordert einen sogenannten Konnektor, also eine Art Verschlüsselungscomputer, ein Praxisverwaltungssystem mit eigenem Kennwort auf dem Computer und ein Kartenterminal für das Einlesen der Versicherungskarten der Patienten. Für den Konnektor benötigt man vier verschiedene Pins, das Kartenterminal hat eine eigene Pin. Es muss mit einem elektronischen Praxisausweis, der auch eine eigene Pin hat, und einem elektronischen Arztausweis bestückt werden, der eine eigene Signatur-Pin und eine eigene Karten-Pin benötigt, außerdem einer Puk und einem Kennwort für das Kundenkonto bei der Firma.
Da schwirrt einem der Kopf. Sie als Mediziner macht das vermutlich wahnsinnig.
Soll ich noch erzählen, wie ich erst im dritten Anlauf diesen elektronischen Arztausweis bekommen konnte, wie die Freischaltung erst nicht geklappt hat, weil die Transport-Pins nicht durch die eigentlichen Pins zu ersetzen waren, weil das schlampig programmierte Programm ständig abstürzte und dann bedrohliche Meldungen auf dem Bildschirm auftauchten? Ich könnte auch noch ergänzen, dass das Kartenlesegerät durch Kriechströme die ganze Praxis-EDV zum Absturz bringen kann und dass ich die Versichertenkarten der Patienten über den Steckplatz für den Arztausweis einlesen muss. Und nächste Woche wird es neue Probleme geben. Und – ach so: Dann kommen ja auch noch Patienten, die behandelt werden wollen.
Genau: die Patienten. Für sie haben Sie wohl immer weniger Zeit.
Die Gesamtbelastung steigt: Ich arbeite seit Langem mit mindestens 36 Behandlungsstunden pro Woche. Dazu kommen dann noch die vielen Stunden für Bürokratie und EDV. Zum zeitraubenden Effekt der EDV-Anforderungen kommen weitere Sorgen: Ich bin zwar auch Facharzt für Psychiatrie, habe aber bei meiner Niederlassung in Kirchheim nur eine Zulassung für Psychotherapie bekommen, das heißt, dass ich seitdem keine Körpermedizin mehr betreibe und da inzwischen auch die Übung verloren habe. Ich muss aber immer damit rechnen, dennoch für den hausärztlichen Notdienst eingeteilt zu werden. Um meine Dienste weggeben zu können, brauche ich aber einen funktionierenden Konnektor. . .
Nehmen psychische Krankheiten zu?
Ob psychische Erkrankungen wirklich zunehmen, ist umstritten. Unbestritten ist aber beispielsweise die Tatsache, dass sie inzwischen die häufigste Ursache für vorzeitige Berentungen darstellen. Früher waren hier die orthopädischen Krankheitsbilder führend. Ganz sicher hat die Coronakrise zu einer erheblichen Zunahme des Leidensdruckes geführt.
Der Ärztemangel ist jetzt Thema in der Politik – immerhin. Hoffen Sie darauf, dass sich etwas tut?
Man soll ja mit Prognosen vorsichtig sein – besonders, wenn sie die Zukunft betreffen. Trotzdem wage ich eine: Auch künftig wird keine einzige der bürokratischen Regeln abgeschafft, die den Ärzten das Leben schwer machen. Stattdessen wuchert die Bürokratie weiter und wird höchstens von den noch schlimmer wuchernden EDV-Anforderungen überholt. Die ärztliche Einzelpraxis ist tot, sie wird von städtischen Großpraxen mit eigenen IT-Fachleuten und Sicherheitspersonal der Berufsgenossenschaften ersetzt.
Was bedeutet das für die Bevölkerung rund um die Teck?
Die Bevölkerung im ländlichen Raum muss zum Arztbesuch in die Stadt fahren und der, der das nicht mehr kann, sollte sich ein Taxi leisten können. Denn die Krankenkassen werden die Kosten nicht tragen, die müssen aus den Versichertenbeiträgen ja die Kosten für Aufbau und Erhalt der Telematik-Infrastruktur tragen.
Eine zynische Bilanz nach 25 Jahren Niedergelassenentätigkeit! Wie könnte man – auf politischer Ebene – das Ruder noch rumreißen?
Das Gesetz für sichere digitale Kommunikation im Gesundheitswesen hätte als Gesetz mit Verfallsdatum realisiert werden müssen. Ließen sich die Vorgaben bis zu einem bestimmten Stichtag nicht umsetzen, müsste das Gesetz wieder gestrichen oder verändert werden. Im Moment haben wir eine Situation, die mich an den Bau des Berliner Flughafens erinnert: Da fließt viel Geld und Mühe in ein Projekt, das wegen bestimmter Planungsfehler nicht funktioniert. Von politischer Seite bräuchte man den Mut für das Eingeständnis: „Sorry, das hat jetzt so nicht geklappt. Wir fangen noch mal von vorne an.“
Welchen Rat geben Sie jungen Berufseinsteigern/Medizinstudenten?
Der Bereich Psychiatrie/Psychotherapie ist ein hochinteressanter Arbeitsbereich; die Arbeitsbedingungen erfordern aber Geduld und Frustrationstoleranz.
Und was ist Ihr Rat für uns Patientinnen und Patienten?
Ebenfalls Geduld und Frustrationstoleranz. Eine Randbemerkung: Auf lateinisch heißt „patientia“ Erleiden, Erdulden oder Ertragen. Man sieht, dass die alten Römer auch schon wussten, was wichtig ist – und die hatten noch nicht mal Computer.
Es lebe die Bürokratie! – Ein Kommentar von Irene Strifler
Wer hat die Erfahrung noch nicht gemacht: Ein Arzt wird gebraucht, doch in kaum einer Praxis schafft man es über die freundliche Stimme an der Anmeldung hinaus. Der Ärztemangel ist längst kein Problem des ländlichen Raums mehr, er ist in den Städten und im Alltag angekommen.
Ältere Ärztinnen und Ärzte geben frustriert ihre Praxen auf, ohne einen Nachfolger in Aussicht zu haben, jüngere versuchen sich schon gar nicht als Inhaber einer eigenen Praxis, und viele Mediziner im mittleren Alter wechseln in Behördenjobs. – Diese Entwicklung als deren Privatsache abzutun, ist viel zu kurz gedacht. Längst haben nämlich wir alle, also die Patientinnen und Patienten, ein Problem: Die Zahl der niedergelassenen Ärzte geht drastisch zurück bei gleichzeitigem Anstieg älterer Menschen, die naturgemäß mehr Arztkontakte haben. Wer Hilfe braucht, muss dafür oft weit fahren.
Aufseiten der Mediziner gibt es viele Gründe. Die Bürokratisierung ist einer der Totengräber des wohnortnahen Praxensystems in Deutschland. Sie macht den Ärzten das Leben schwer, vergällt ihnen den Beruf. Wenn die Bürokratie die Arbeit mit den Patienten übersteigt, haben die Ärzte die Nase voll. Sie haben die Wahl: entweder immer mehr arbeiten oder aussteigen aus der Mühle durch Ruhestand oder überschaubaren Angestelltenjob. Ersteres passt nicht mehr ins heutige Lebensgefühl und widerspricht auch dem, was Mediziner ihren Patienten predigen. Letzteres scheint zur Regel zu werden, zumal die Bezahlung immer noch attraktiv ist.
Die Leidtragen sind die Patienten: Vom bisherigen System, wohnortnah niedergelassene Ärzte zu haben, verabschiedet sich die Gesellschaft langsam, auch hier in der Region. Es geht auch anders, das zeigen Erfahrungen aus anderen Ländern. Das deutsche Gesundheitssystem wird weiterhin eines der weltweit besten sein. Dennoch büßt die Bevölkerung an Versorgungsqualität ein, letztlich an Lebensqualität. Praxen sterben – es lebe die Bürokratie!