Wie alle Kinder hatten sie ihre Träume und Wünsche. Aber von einem Tag auf den anderen wurden sie 1933 zu Feinden erklärt. Bis dahin waren sie alle auf normale Schulen gegangen, als Deutsche unter Deutschen, nur mit einer anderen Religion: Unter den rund sechs Millionen Opfern des Holocausts befanden sich etwa 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche, erklärt Markus Ocker am Schlossgymnasium.
Neuntklässler sind es, die er ins Thema des Holocaust-Gedenktags einführt. Die Kirchheimer Schüler, die in der folgenden Doppelstunde gebannt lauschen, sind in etwa so alt wie Inge Auerbacher, Ruth Klüger, Annelies Marie Frank und Gerhard Durlacher damals waren, als sie aus der Schule und aus der Heimat vertrieben wurden.
Inge Auerbacher wurde 1934 in Kippenheim geboren, kam mit vier nach Jebenhausen und mit sieben nach Theresienstadt. Von Jebenhausen aus hatte sie sich täglich zu Fuß nach Göppingen aufgemacht, wo sie den Zug nach Stuttgart nahm, weil es dort eine jüdische Volksschule gab. Weil sie einen Judenstern zu tragen hatte, wurde der lange Schulweg für sie oft zum Spießrutenlaufen. Sie hat sich aber nicht unterkriegen lassen.
Ein beeindruckender Text zeugt davon: das Gedicht „Ich bin ein Stern“ aus ihrer gleichnamigen Biografie. „Es ist mir egal, was die anderen sagen, / Ich will ihn für mich und trotz allem tragen“, heißt es da. Noch beachtlicher ist der Schluss des Gedichts, in dem die Bereitschaft zum Ausdruck kommt, den passiven Kampf aufzunehmen und zu überstehen: „Weine nicht, Mama, hör mein Versprechen, / Niemand wird meine Seele zerbrechen.“ Das sind starke Worte eines starken Menschen. Tatsächlich hat Inge Auerbacher das Grauen in Theresienstadt überlebt. Sie und ihre Eltern gehörten zu den ganz wenigen, die 1945 von dort nach Württemberg zurückkamen. Ein Jahr später wanderten sie in die USA aus.
Anne Frank ist die bekannteste der vier Jugendlichen, die am Schlossgymnasium vorgestellt wurden: Von Frankfurt ging die Familie zunächst nach Amsterdam, wo sie aber vom Schicksal eingeholt wurde. Eine Filmsequenz zeigte gestern den Einzug ins Hinterhausversteck, in dem die Familie schließlich verraten wurde. Otto Frank hat später das Tagebuch seiner Tochter herausgegeben, die 1945 in Bergen-Belsen getötet worden war.
Ruth Klüger wiederum gehörte zu den Überlebenden. 1942 wurde sie mit elf Jahren deportiert. Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau, Christianstadt hießen die Stationen. Überlebt hat sie dank einer fremden Aufseherin: Sie sollte sich als Zwölfjährige für einen Arbeitstransport melden und ihr Alter mit 15 angeben. Trotz der Ermahnungen ihrer Mutter nannte sie das korrekte Alter. Erst der Fremden, die sich unter eigener Lebensgefahr für sie einsetzte, glaubte sie, dass die Notlüge überlebensnotwendig ist. Folgendes Fazit zieht die spätere US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin in ihrem Buch „weiter leben“ aus der schicksalhaften Begegnung mit der fremden Frau: „Ich hatte eine Lebensverlängerung bekommen.“
Verdrängen geht auf Dauer nicht
Auch Gerhard Durlacher hat über seine Erlebnisse geschrieben, in den Büchern „Ertrinken“ und „Streifen am Himmel“. Erzählt hat er aber nicht viel. In einem Radiointerview schildern seine Frau und seine Tochter nach seinem Tod, wie das Überleben des Ehemanns und Vaters die ganze Familie geprägt hat. Durlacher wurde 1928 in Baden-Baden geboren und emigrierte mit seinen Eltern 1937 in die Niederlande, bis auch er 1942 über Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau kam. Er selbst hat später sinngemäß gesagt: „Als Überlebende sind wir Gift für unsere Kinder, weil wir das Erlebte an sie weiterreichen.“ Dabei hatte er von Anfang an versucht, alles zu verdrängen. „Eine Gardine war vor meine Wahrnehmung gefallen“, schreibt er viele Jahre später. Aber das nutzt nichts, denn „jetzt fällt hin und wieder ein Archivblatt aus dem verrotteten Panzerschrank meines Gedächtnisses“.
Auch wenn er wenig erzählt hat: Wertvoll ist es, dass er seine Erinnerungen aufgeschrieben hat - wie auch Inge Auerbacher, Anne Frank und Ruth Klüger. Nur so gelingt es, dass die „Archivblätter“ im kollektiven Gedächtnis erhalten bleiben. Nur so kann man sich an ihr Schicksal erinnern - wie jetzt zum Gedenken am Schlossgymnasium.