Kirchheim
One-Hit-Wonder 9-Euro-Ticket: Schluss mit günstig Reisen

Verkehr Am Mittwoch, 31. August, läuft das Neun-Euro-Ticket aus, und Bus und Bahn werden nach drei Monaten wieder teurer. In der Politik herrscht Uneinigkeit, wie es weitergeht. Von Sarah Polzer

Volle Züge, lange Wartezeiten und Punks auf Sylt. – Das Neun-Euro-Ticket hat so einiges an Chaos mit sich gebracht. Nach Angaben des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen wurden bis Mitte August deutschlandweit etwa 38 Millionen Tickets verkauft.

 

Viele Menschen haben ein falsches Bild vom Bahnfahren erhalten.
Ein Lokführer kritisiert fehlende nachhaltige Investitionen.

Dazu kommen rund zehn Millionen Kunden der Deutschen Bahn, die automatisch ein Abonnement erhalten haben. 

Für den Verkehrsverbund Stuttgart (VVS) liegen Hochrechnungen vor: Rund 1,8 Millionen mal wurde das Ticket im Großraum Stuttgart verkauft.  350 000 Abonnenten besaßen schon vorher ein Ticket. Stadtbahnen, S-Bahnen und Busse waren voller als sonst. Regionalzüge waren sehr stark ausgelastet und teilweise auch überfüllt.

Besonders viel Zulauf erhielten die Strecken nach Nürnberg, Karlsruhe oder zum Bodensee. Stuttgart selbst war auch ein beliebtes Reiseziel. Die große Nachfrage führte auch zu Verspätungen der Regionalbahnen. Busse und S-Bahnen hingegen kamen laut VVS nicht häufiger zu spät als sonst.

Im Januar wird es eine Tariferhöhung von 4,9 Prozent geben. Grund dafür sind die gestiegenen Kosten für Diesel, Strom und Personal. Jugendliche bis zum Alter von 21 Jahren sind von der Preiserhöhung ausgenommen. Das gilt auch für Studenten oder Auszubildende zwischen 22 und 27 Jahren. Ab März 2023 wird ein landesweites Jugendticket für 365 Euro im Jahr eingeführt.

„Aus eigener Kraft kann der VVS auf keinen Fall ein weiteres vergünstigtes Angebot in der Art des Neun-Euro-Tickets finanzieren“, sagt Pressesprecher Niklas Hetfleisch. Grund dafür sind die weiter steigenden Energiepreise. In Zukunft „sollten Nachfolgeangebote dauerhaft und vollständig vom Bund finanziert werden“, meint Niklas Hetfleisch. Priorität habe jedoch die Finanzierung von bestehenden Angeboten.

Die Ampelregierung verbucht das Pilotprojekt für sich als Erfolg. Zuspruch gibt es auch aus den Reihen der Opposition. „Viele Momente wurden dadurch erst möglich, gerade, wenn der Geldbeutel nicht so locker sitzt.“, meint der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Hennrich. Für seine Fraktion liegt das Grundproblem in der soliden  Finanzierbarkeit. „Der Ansatz ist zwar gut, aber es fehlt eine langfristige Perspektive.“, äußert sich Michael Hennrich. Gerade in den ländlichen Gebieten fehlt oft noch der Verkehrsanschluss. Deshalb „sollte ein weiterführendes Angebot stärker auf die Regionen selbst zugeschnitten werden.“

In einem sind sich alle Parteien einig: Der ÖPNV muss deutlich ausgebaut werden und für alle finanzierbar sein. „Die Probleme im öffentlichen Nahverkehr wie überfüllte und ausfallende Züge hat das Neun-Euro-Ticket deutlich aufgezeigt“ , sagt der SPD-Politiker Dr. Nils Schmid. Der Bundestagsabgeordnete appelliert: „Wenn wir die Verkehrswende ernst meinen, müssen wir viel Geld in die Hand nehmen“. 

Die Grünen haben einen Vorschlag für ein bundesweites Ticket zu 49 Euro und ein landesweites zu 29 Euro vorgelegt. „Nachhaltige Mobilität soll für alle bezahlbar sein und nicht durch komplizierte Tarifstrukturen erschwert werden“, fordert Matthias Gastel von den Grünen. Mit dem Angebot möchte die Fraktion „einen Umstieg vom Auto erreichen“. Die Förderung für große, engergieintensive Autos ist für die Grünen ein Fehlanreiz, der beseitigt werden soll. „Damit wird mehr Geld frei, um die Öffentlichen noch besser zu machen“, sagt Matthias Gastel.

Nach Auffassung von Renata Alt, FDP ist „der Tarifdschungel im deutschen ÖPNV nicht zeitgemäß und nicht akzeptabel“. Ihre Partei setze auf den massiven Ausbau von Infrastruktur und eine zunehmende Digitalisierung. 

Mehr Geld, um wirtschaftliche Krisen bei den Verkehrsunternehmen zu verhindern. – Das forderten die Länder auf der Verkehrsministerkonferenz am Freitag. Beschlüsse werden bislang nicht erwartet. Erst zur regulären Sitzung im Oktober wollen die Vertreter der einzelnen Länder das Problem in den Angriff nehmen.

Ein Lokführer erzählt an einem Bahnhof im Verbreitungsgebiet des Teckboten, wie er die letzten drei Monate erlebt hat.  „Es war sehr viel los, besonders am Wochenende“, erzählt er. Den Grundgedanken hinter dem Ticket, für den ÖPNV zu werben, findet er nicht verkehrt. „Viele Menschen haben ein falsches Bild vom Bahnfahren erhalten“, meint der Lokführer. Er kritisiert, dass ,„der Staat viel Geld in die Hand genommen hat, ohne es langfristig sinnvoll zu investieren“. 

Randnotiz: Schön war die Zeit

So schön war die Zeit. Das trällerte Freddy Quinn vor fast 70 Jahren in Erinnerung an vergangene Zeiten – inklusive Verklärung derselben.
Schön war die Zeit- Das ist ein Satz, der sich auch zur Verabschiedung des 9-Euro-Tickets eignet. Klar, dass sich auch hier im Rückblick Verklärung breit macht und bis zum Bersten vollgestopfte Züge einfach in Vergessenheit geraten. Doch vieles am 9-Euro-Ticket war einfach schön in einer Zeit voller Krisen und Bedrohungen: Die preiswerten Ausflugsfahrten beispielsweise, die auch benachteiligten Familien plötzlich mehr Teilhabe verschafften und von denen deren Kinder in der Schule berichten können. Vor allem aber die Leichtigkeit des Reisens beim Wochenend- oder Spontantripp. Kein Einarbeiten in ein Wirrwarr aus Tarifzonen und – verbünden mehr. Kein schwäbisches Nachrechnen, welche Karte denn letztlich die günstigste sein dürfte. – Wer das 9-Euro-Ticket auf dem Handy oder im Geldbeutel hatte, stieg im Idealfall einfach ein in die S-Bahn oder den Regionalzug. Schön war das in den vergangenen drei Monaten!
Doch jetzt ist Schluss mit dem Ticket. Und mit vielem anderen auch, etwa dem Tankrabatt oder dem Sommer insgesamt. Die Probleme dieser Zeit lassen sich nicht länger verdrängen, sie rücken unnachgiebig täglich klarer in den Vordergrund: der nicht enden wollende Angriffskrieg im Osten Europas, die sich immer deutlicher abzeichnende Wirtschaftskrise, die allerorten spürbare Teuerung samt Sparmaßnahmen, die Inflation in nie gekanntem Ausmaß, die Angst vor einem kalten Winter, vor einem demokratiegefährdenden „Wut-Winter“, vor dem Klimawandel und schließlich auch noch vor einer unbeherrschbaren Corona-Mutation.
Das 9-Euro-Ticket hat keine Wunder vollbracht. Offenbar hat es nach derzeitigem Erkenntnisstand nichts zur Verkehrswende beigetragen. Aber es ist ein Synonym für einen Funken sommerlicher Sorglosigkeit, der kurz aufglimmen durfte in diesen sorgenbehafteten Jahren. So schön war die Zeit! Irene Strifler