Kirchheim. „Die Diskussion muss damit ansetzen, dass Israel Opfer eines Angriffs ist“, stellte Dr. Nils Schmid beim Informationsabend über den Gaza-Konflikt im Kirchheimer Waldhorn eingangs fest. Die Gräuel des 7. Oktober seien die schlimmsten Gewalttaten, die seit dem Holocaust an Juden verübt wurden. „Und dieser Angriff dauert an“, betonte der Bundestagsabgeordnete und außenpolitische Sprecher der SPD. Indem Hamas zivile Einrichtungen als Schutzschilde missbrauche, verübe die Terrororganisation Kriegsverbrechen. Hamas trage daher die Verantwortung für die zivilen Opfer. Israel habe das Recht, sich zu verteidigen und die terroristischen Strukturen zu zerstören.
Gleichwohl unterstrich Schmid die Forderung nach humanitären Korridoren: „Auch die Zivilbevölkerung im Gazastreifen hat Anspruch auf Unterstützung.“ Mit Dr. Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik hatte Schmid eine Expertin des Nahostkonflikts eingeladen. „Die barbarischen Massaker des 7. Oktober sind eine Zäsur für Israel“, verdeutlichte die Politologin. Der gezielte Angriff auf israelische Zivilisten sei ein erschreckendes Novum. Über 1300 Menschen wurden ermordet, etwa 240 Geiseln verschleppt.
Gesellschaftlich rühre das am kollektiven Trauma der Shoa. Der Staat Israel habe sein Schutzversprechen nicht halten können und stehe nun in einer zuvor undenkbaren Verwundbarkeit da. Zwar befürworte die Bevölkerung die militärische Operation in Gaza, jedoch wachse die Kritik an der Regierung von Ministerpräsident Netanjahu.
Als Reaktion auf den 7. Oktober hat Israel Gaza komplett abgeriegelt. Mit drastischen Folgen: „Wir haben dort eine humanitäre Katastrophe“, sagte Asseburg, „im Norden des Gazastreifens besteht extremer Trinkwassermangel.“ Massive Bombardements hätten inzwischen zu über 9000 Toten geführt. Eine Konsequenz der dichten Besiedlung, die eine Unterscheidung militärischer und ziviler Objekte erschwere. Dennoch habe die kriegsführende Partei die Verpflichtung, so wenig zivile Opfer wie möglich zu treffen: „Das humanitäre Völkerrecht setzt Israel Grenzen, die derzeit nicht respektiert werden“, so Asseburg. Der an die Bewohner des Gazastreifens ergangene Aufruf zur Evakuierung rühre ebenfalls an einem kollektiven Trauma. Er wecke Angst vor erneuter Flucht und Vertreibung, wie sie die Palästinenser 1948 erlebt hatten.
Mehr internationales Engagement
Differenziert beantwortete Asseburg die Frage nach dem aktuellen Eskalationspotenzial. Das Erstarken militanter Gruppen habe die palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland geschwächt. Zudem hätten dort bewaffnete Siedler unlängst rund 1000 Menschen vertrieben. Es sei davon auszugehen, dass „die Überbleibsel von Oslo“, also das gemeinsame Konfliktmanagement, nicht länger standhielten. Dass die Hisbollah Auseinandersetzungen offenbar weiter „eingehegt“ halten wolle, solle kein falsches Gefühl von Sicherheit vermitteln. Denn sollte Hamas zerschlagen oder libanesische Zivilisten betroffen werden, könne sich das Blatt rasch wenden.
Iran habe Asseburgs Einschätzung nach kein Interesse, direkte Konfliktpartei zu werden. Dennoch sei mit Versuchen Irans zu rechnen, den Krieg über militante nichtstaatliche Gruppierungen anzuheizen. Zur Stabilisierung Gazas sieht Asseburg die USA, die arabische Welt und Europa in der Verantwortung, für ein „regionales und internationales Arrangement mit einer Übergangsverwaltung“ zu sorgen, Diese könne mittelfristig die Verantwortung an die Autonomiebehörde übergeben. Sie hoffe, dass der Schock des 7. Oktober und die Gewalt in Gaza einen Ruck durch die internationale Gemeinschaft gehen lasse, sich intensiver um eine politische Lösung zu bemühen. Florian Stegmaier