Der Polizeibericht gehört in Tageszeitungen zuverlässig zu den meistgelesenen Artikeln. Egal ob Verkehrsunfälle, Schlägereien, Einbrüche oder Brände: Was im Polizeibericht steht, interessiert eigentlich jeden, egal, ob der Vorfall im eigenen Ort passiert ist oder anderswo. Eines fällt bei der Lektüre der Berichte auf: Der Begriff „psychischer Ausnahmezustand“ taucht in den letzten Jahren immer häufiger auf. Doch was bedeutet dieser Begriff eigentlich? Und kann man aus dieser Häufung den Schluss ziehen, dass Straftaten, verübt von Menschen mit psychischen Erkrankungen, häufiger geworden sind?
Fakt ist: Es finden mehr Polizeieinsätze statt, in denen Menschen involviert sind, die sich in einem „psychischen Ausnahmezustand“ befinden. Das schreibt die Polizei Reutlingen, die auch für den Landkreis Esslingen zuständig ist, in ihrer Antwort auf eine Presseanfrage. Wichtig ist, zu betonen, dass diese Menschen keine verurteilten Straftäter, sondern Tatverdächtige sind. „Allein im Jahr 2024 ließen sich für das Polizeipräsidium Reutlingen annähernd 4.400 Einsätze im Zusammenhang mit psychisch auffälligen Personen recherchieren“, sagt Sprecher Martin Raff, schränkt aber ein, dass die Zahl aufgrund der Modalitäten bei der Fallerfassung beziehungsweise den Auswertemöglichkeiten mit gewissen Unschärfen verbunden sein dürfte. Das seien 400 Einsätze mehr als im Vorjahr.
Wichtig ist, zu betonen: Der Begriff „psychischer Ausnahmezustand“ ist keine medizinische Diagnose. Er sagt nicht automatisch aus, dass ein Mensch psychisch erkrankt ist. Es handelt sich vielmehr um eine Art Sammelbegriff, den Polizeibeamte verwenden, um zu beschreiben, dass sich ein Mensch zum Zeitpunkt des Einsatzes in einem Zustand außergewöhnlicher Belastung oder Erregung befunden hat. Selbstverständlich ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass ein Mensch, der von der Polizei entsprechend kategorisiert wird, nicht an einer psychischen Erkrankung leidet. Weil Polizeibeamte keine Psychotherapeuten oder Psychiater sind und zum Ausdruck kommen soll, dass es sich bei der Kategorisierung um eine erste Einschätzung handelt, verwendeten sie den Begriff in der Regel mit einem einschränkenden „offenbar“ oder „wohl“, so Polizeisprecher Martin Raff.
Die Zunahme der Vorfälle, an denen Personen in psychischen Ausnahmezuständen beteiligt sind, bedeutet also nicht, dass es mehr Polizeieinsätze gibt, bei denen psychisch kranke Menschen involviert sind.
Gleichzeitig ist durch die Berichterstattung über die Taten in Aschaffenburg, Hamburg oder Notzingen bei vielen Menschen der Eindruck entstanden, dass die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines psychisch kranken Täters zu werden, gestiegen sei. Warum das nicht stimmt, und was diese nicht belegte öffentliche Wahrnehmung für Menschen bedeutet, die psychisch erkrankt sind, steht im Interview mit Dr. Simon Golks.
Was die Polizei tun darf – und was nicht
In Deutschland sind die Hürden für die zwangsweise Unterbringung einer Person in einer psychiatrischen Einrichtung hoch. In besonderen Fällen, die im Polizeigesetz Paragraph 33 (Gewahrsam) geregelt sind, darf die Polizei eine Person ohne richterliche Anordnung in eine Psychiatrie bringen. Dabei handelt die Polizei auf der Rechtsgrundlage des Polizeigesetzes Baden-Württemberg. Bei dieser Form der Unterbringung handelt es sich um ein sogenanntes „außerordentliches Unterbringungsverfahren“ durch eine fürsorgliche Maßnahme. In einem solchen Fall muss die betroffene Person unverzüglich von einem Arzt der Einrichtung untersucht werden, der darüber entscheidet, die Person wieder zu entlassen, oder der einen Antrag auf weitere Unterbringung stellt.
Die Polizei weist in ihrer Antwort auf die Presseanfrage darauf hin, dass nicht jedes psychisch auffällige Verhalten ein solches außerordentliches Unterbringungsverfahren rechtfertigt. Die Polizei sei stets an Recht und Gesetz gebunden und könne nur dann Maßnahmen ergreifen, wenn die dafür vorgesehenen rechtlichen Voraussetzungen erfüllt seien. „In einem demokratischen Land mit umfassenden Freiheitsrechten kann nicht jedes unliebsame oder auffällige Verhalten automatisch dazu führen, dass Menschen von der Polizei in Gewahrsam genommen werden“, sagt Martin Raff.
Wenn Anwohner Sorge haben, weil sich ein Nachbar auffällig verhält, empfiehlt die Polizei die Kontaktaufnahme mit einer entsprechenden Beratungsstelle oder dem Gesundheitsamt. „Wenn eine Person hingegen andere Menschen konkret bedroht oder gar sich oder andere verletzen will, raten wir selbstverständlich dazu, über die Notruf die Polizei zu verständigen – übrigens unabhängig davon, ob eine psychische Auffälligkeit vorliegt oder nicht“, so Martin Raff. adö