Interview
„Psychisch erkrankte Menschen sind nicht gewalttätiger als andere“

Dr. Siegmund Golks, Leitender Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Kirchheim, über den Zusammenhang zwischen Gewalt und psychischen Erkrankungen.

Dr. Siegmund Golks ist leitender Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie (Medius-Klinik) in Kirchheim. Foto: pr

Die Angst, Opfer eines psychisch kranken Straftäters zu werden, ist gestiegen. Ist diese Angst begründet?

Dr. Siegmund Golks: Aus statistischer Sicht ist diese Angst unbegründet. Das allgemeine Risiko, durch eine Straftat getötet zu werden, liegt bei etwa 1 zu 160.000. Das Risiko, durch eine psychisch kranke Person getötet zu werden, liegt noch deutlich niedriger – bei etwa 1 zu 1,5 Millionen (Quelle: Bundespsychotherapeutenkammer 2021).

Wie ist der Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen und der Neigung zu Gewalt?

Golks: Psychisch erkrankte Menschen sind nicht gewalttätiger als andere. Studien belegen, dass eine psychische Erkrankung allein kein verlässlicher Prädiktor für Gewalttaten ist. In der Allgemeinbevölkerung liegt die Gewaltneigung bei rund zwei Prozent. Bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen – insbesondere in Verbindung mit Substanzmissbrauch – kann das Risiko leicht erhöht sein und liegt bei etwa vier bis sechs Prozent. Dabei spielen vor allem Alkohol, Amphetamine oder Kokain sowie ein dissozialer Lebensstil eine entscheidendere Rolle als die Erkrankung selbst. Wichtig: Der Konsum von Alkohol oder Drogen allein rechtfertigt weder die Diagnose einer psychischen Erkrankung noch eine verminderte strafrechtliche Verantwortlichkeit.

Welche Auswirkungen haben solche Debatten auf Menschen mit psychischen Erkrankungen?

Die öffentliche Debatte – oft wenig differenziert – kann für psychisch erkrankte Menschen belastende Folgen haben: sozialer Rückzug, Angst vor Stigmatisierung, Diskriminierung im Beruf, negative Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl sowie eine erschwerte Bereitschaft, sich Hilfe zu holen. Auch das Vertrauen in Therapien kann dadurch leiden.

In Polizeiberichten liest man immer häufiger von Tatverdächtigen, die sich in einem „psychischen Ausnahmezustand“ befunden haben. Die Polizei stellt zwar klar, dass das keine Diagnose ist und „psychischer Ausnahmezustand“ nicht mit „psychisch krank“ verwechselt werden darf. Dennoch: Trägt eine solche Kategorie nicht dazu bei, eine Kausalität in den Köpfen der LeserInnen zu verankern, die gar nicht vorhanden ist?

Ja, diese Formulierung kann den Eindruck verstärken, dass psychisch kranke Menschen generell gefährlich und nicht verantwortlich für ihr Handeln seien – ein Bild, das in dieser Pauschalität nicht stimmt. Ein Grundproblem liegt in der Vorstellung, es gebe „die“ psychische Erkrankung. Tatsächlich ist das Spektrum psychischer Störungen sehr breit. Selbst bei gleicher Diagnose – etwa Schizophrenie – können. Symptomatik, Verlauf und Auswirkungen auf das Leben von Person zu Person stark variieren. Hinzu kommt: Die häufige mediale oder gesellschaftliche Gleichsetzung von „psychisch krank“ mit „nicht zurechnungsfähig“ ist irreführend. Ob jemand schuldfähig ist, wird in jedem Einzelfall geprüft. Nur in etwa 0,09 Prozent aller Strafverfahren wird laut Statistik eine Schuldunfähigkeit anerkannt, in etwa 2,3 Prozent eine erhebliche Minderung der Steuerungsfähigkeit.