Kirchheim. Im Streit mit einem anderen Mann soll ein 23-Jähriger am Abend des 11. Juli dieses Jahres in Kirchheim seinem Gegenüber mit einem über 20 Zentimeter langen Messer schwere Kopfverletzungen beigebracht haben. In seinem Prozess vor dem Stuttgarter Landgericht wegen versuchter Tötung, der gestern begann, beteuerte der 23-Jährige allerdings, dass er in Notwehr gehandelt habe.
Die Anklageschrift gegen den aus Afghanistan stammenden Beschuldigten ist kurz. Er soll am 11. Juli gegen 20 Uhr mit einem Landsmann in Kirchheim aus unbekannten Gründen in Streit geraten sein. Dabei soll er plötzlich ein Messer mit einer 20 bis 30 Zentimeter langen spitzen Klinge gegen den anderen eingesetzt haben. Ärzte im Krankenhaus stellten später schwere Schnittverletzungen am Kopf des Opfers fest, unter anderem eine 15 Zentimeter lange Wunde. Mit seinem Messereinsatz, so die Anklage weiter, habe er den möglichen Tod des Opfers in Kauf genommen, sagt die Staatsanwältin.
Doch der Angeklagte sieht das ganz anders. Er sagte vor den Richtern der Stuttgarter Schwurgerichtskammer aus, dass es das Opfer gewesen sei, das ein Messer gehabt habe und im Streit drohend auf ihn zugegangen sei. Dann habe der Angeklagte plötzlich Angst bekommen, denn das Opfer habe auf ihn eingeschlagen, das Messer gegen ihn gezückt, versucht zuzustechen. Zudem soll der Mann mit einem Schlagring an der Faust auf ihn eingeschlagen haben. Der Angeklagte betonte, dass das Opfer es gewesen sei, das ihn habe umbringen wollen.
Dann jedoch habe er – in Notwehr – den Mann zu Boden geworfen, habe ihm dabei das Messer, mit dem der andere ihm vorher Schläge auf die Stirn verpasst habe, aus der Hand genommen. Ob er dabei zugestochen hat, sagte der Angeklagte nicht. Er sei mit blutenden Händen danach vom Tatort weg in Richtung des Kirchheimer Krankenhaus gegangen und habe sich danach selbst der Polizei gestellt. Festgenommen wurde er jedoch erst zwei Wochen später, am 26. Juli.
Ungläubig fragten die Richter nach, wer eigentlich das Messer zuerst in der Hand gehabt habe. Und in welchem Zustand der Angeklagte damals gewesen sei, ob etwa alkoholisiert oder unter Drogen. Auch darauf hatte der 23-Jährige spontane Antworten parat: Drogen nehme er täglich ein Gramm, Schnaps trinke er jeweils eine Flasche, die er in einer halben Stunde leere. Dem vorsitzenden Richter der Strafkammer wurde es zu viel und wies darauf hin, dass davon in ersten Vernehmungen bei der Polizei nicht die Rede gewesen sei. Man werde zur Drogen- und Alkoholsucht einen Gutachter hören.
Der Angeklagte kam 2016 als Kriegsflüchtling nach Deutschland. Drei Monate habe seine Flucht vor dem aggressiven Taliban-Regime gedauert. Man habe ihn im jugendlichen Alter geschlagen und bedroht, was der Fluchtgrund gewesen sei. Seine zehn Geschwister und die Eltern befänden sich noch in der Heimat. In Stuttgart habe er einen Job bei der Autobahnmeisterei gefunden. Mit dem Verdienst will er seinen Drogenkonsum finanziert haben.
Mit der Vernehmung von gut einem Dutzend Zeugen und einem Sachverständigen zur Frage der Sucht geht der Prozess am Freitag, 9. Dezember, weiter. Insgesamt sind nur drei weitere Verhandlungstage terminiert, sodass am 14. Dezember ein Urteil gesprochen werden kann. Bernd Winckler