Kirchheim
Russisch-ukrainisch-deutscher Chor: Wo gesungen wird . . .

Völkerverständigung Die Politik bleibt draußen, drinnen ist Platz für Musik: Immer freitags trifft sich der Chor „Melodija“, in dem Menschen aus der Ukraine, aus Russland und Deutschland zusammen singen. Von Karin Ait Atmane

In diesem Chor steckt Bewegung, links German Suworow und Tatjana Bekker.  Foto: Karin Ait Atmane

Im Vereinszimmer der Konrad-Widerholt-Halle ist Ankunft und Aufbruch zugleich. Ein Klavierschüler von Chorleiterin Tatjana Bekker zeigt grade noch sein beeindruckendes Können an den Tasten, gleichzeitig trudeln die Mitglieder des Chors „Melodija“ ein und füllen den Raum mit Stimmengewirr. Man kann schon ahnen, dass es in diesem Chor lebhaft zugeht. Der Beweis lässt nicht lange auf sich warten.

Die Gruppe hat sich locker im Halbkreis aufgestellt, Chormitglied Nina Suworowa greift zum Bajan, dem Knopf-Akkordeon, und alle stimmen ein temperamentvolles, weißrussisches Lied an, dessen Rhythmus offenbar direkt ins Blut geht. Bald schon klatschen Hände, Notenblätter wedeln durch die Luft und die Chorleiterin wie auch ein älterer Herr beginnen zu tanzen: aufeinander zu, voneinander weg, umeinander. „Darf ich vorstellen: German Suworow, 82 Jahre alt“, deutet Bekker am Ende des Lieds lachend auf ihren Tanzpartner. Ohne Verschnaufpause folgt ein ukrainisches Volkslied, dann das russische „Kalinka“ und schließlich ein deutscher Schlager.

 

Es ist ein schöner, friedlicher Umgang miteinander – wir lachen viel.
Renate Hirsch
Chorsängerin

 

Die Begleitung wechselt, Nina Schechtel übernimmt das Bajan, danach setzt sich Tatjana Bekker an den Flügel. Gesungen wird aus voller Kehle, die Backen sind längst rot, die Stimmung ist gelöst. An diesem Tag sind einige krank, aber normalerweise bilden 15 bis 20 Frauen und Männer den Chor. Begonnen hat die Geschichte im Jahr 2007, im Übergangswohnheim Charlottenstraße, in dem viele Spätaussiedler aus Russland und den ehemaligen Sowjet-Staaten lebten. Tatjana Bekker, die schon in den 90er-Jahren nach Deutschland gekommen war, engagierte sich dort und bot eine Kindergruppe an. Irgendwann sprachen einige Frauen sie an, mit dem Wunsch, gemeinsam zu singen. Ein Klavier war im Haus und man startete mit einfachen, überwiegend russischsprachigen Volksliedern. Das erste deutsche Lied, zweistimmig gesungen, war „Du, du liegst mir im Herzen“, erinnern sich Bekker und einige, die schon sehr lange dabei sind.

Der Chor wuchs schnell, bald stießen die ersten „Einheimischen“ dazu, wie Karl-Heinz Schach und Renate Hirsch, die nach wie vor mit von der Partie sind. Beide sprechen Russisch, was die Sache für sie besonders reizvoll macht. „Das war der Grund, warum ich gekommen bin“, sagt Hirsch. Dass sie so lange dabeige­blieben sei, liege dagegen am „schönen, friedlichen Umgang miteinander – wir lachen viel“. Die Gemeinschaft sei von großer Solidarität geprägt, man spüre noch ein wenig vom einstigen Vielvölkerstaat Sowjetunion, was sie spannend findet.

Sprache ist keine Barriere

„In den vielen Jahren, die wir zusammen singen, habe ich so viele russische und ukrainische Lieder gelernt – das ist ein Schatz“, sagt Renate Hirsch. Sie glaubt, dass Ausstrahlung und Harmonik dieser Lieder Deutschen generell liegen. Gesungen wird aber auch in anderen Sprachen – Kasachisch und Kirgisisch, Englisch und Französisch waren schon dabei, mit ganz einfachen Texten. Die Sprache soll jedenfalls keine Barriere sein, die Liedtexte werden in lateinische Schrift transkribiert und dürfen abgelesen werden. Neueinsteiger sind herzlich willkommen.

So kam in den vergangenen zwei Jahren eine ganze Reihe von Geflüchteten aus der Ukraine dazu. Tatjana Bekker musste sich das nicht zwei Mal überlegen: „Wir sind ein Chor, wir kommen zum Singen zusammen“, sagt sie. „Alle, die Freude an Musik haben, sind willkommen.“ Zwei eiserne Regeln gelten allerdings für Melodija: Es wird nicht über Politik geredet, und es werden keine nationalistischen Lieder gesungen. „Wir sind Menschen – egal, aus welchem Land und von welcher Religion“, sagt Bekker, die mit ihrer herzlichen und offenen Art einen wesentlichen Teil zur Harmonie beiträgt. Und natürlich verbindet auch die Liebe zur Musik. „Ohne Musik kann ich nicht leben“, sagt Nina Schechtel, die früher in Russ­land Musiklehrerin und schon bei der Gründung des Chors dabei war. Zwei Ukrainerinnen, die wie Renate Hirsch den „politikfreien Raum“ genießen, bestätigen: „Musik ist ohne Politik.“

Es gibt allerdings auch ein paar frühere Chormitglieder, die nicht mehr kommen. Das habe schon bei Corona begonnen, sagt Tatjana Bekker, auch der deutsch-russische Verein Mosaika, unter dessen Dach der Chor bisher bestand, ist in Auflösung. Ob sich vielleicht doch einige der früheren Mitsänger und -sängerinnen an den Geflüchteten aus der Ukraine gestört haben? Ausschließen kann die Chorleiterin das nicht. „Ich habe nicht gefragt“, sagt sie. „Wer will, der kommt“ – und wer nicht will, eben nicht. So einfach ist das, zumindest eineinhalb Stunden lang am Freitagabend.