Kirchheim
Schneller, schöner, klüger, weiter? – „Elternwettbewerb“ macht das Leben schwer

Inklusion Schon immer vergleichen Eltern ihre Kinder untereinander. Kinder werden zum Statussymbol. Wie empfinden dies die Eltern eines Kindes mit Behinderung? Drei Mütter erzählen. Von Julia Nemetschek-Renz

Krabbelgruppe hieß für mich: Trauer und Schmerz“, erzählt Christina Lange (Name von der Redaktion geändert). „Die anderen gleichaltrigen Kinder sind mit den Bobbycars rumgesaust und meine kleine Tochter lag auf dem Rücken auf dem Boden.“ Und dann diese Themen: Seit wann krabbelt dein Kind? Spricht es schon? „Mein Kind konnte gar nix von alledem“, sagt Christina Lange und weint. Ihre Reaktion – Rückzug. Sie igelt sich zuhause mit ihrer Tochter ein und will von der Welt nichts mehr wissen. Ihre Tochter hat eine körperliche und geistige Behinderung. Mit sechs Monaten verordnet der Kinderarzt zum ersten Mal Physiotherapie, es folgen Klinikaufenthalte und Gentests. Ihre Tochter liegt auch mit einem Jahr noch im Kinderwagen, die Nachbarn gucken und Christina Lange hat keine Kraft, allen immer alles zu erklären.

 

Die Mütter brauchen alle Kraft für sich, die können sich nicht auch noch verteidigen.

Anja Molfenter

vom Klinikum Esslingen über die Mehrfachbelastung mit behinderten Kindern

 

150000 Kinder und Jugendliche in Deutschland haben eine Behinderung und sind pflegebedürftig – die Pflege leisten in zwei Dritteln aller Fälle die Mütter. Der täglich tobende Wettbewerb um die entspannteste Schwangerschaft, das mobilste Baby, das schönste Kleinkind und die klügste Erstklässlerin ist schon für alle anderen Eltern zum Davonlaufen. Doch was machen da die Eltern eines Kindes mit Behinderung? Wie kommen sie da durch?

Anja Molfenter leitet am Klinikum Esslingen die Sozialmedizinische Nachsorge, den Bunten Kreis Esslingen und Göppingen. Heißt: Ihre neun Mitarbeiterinnen betreuen rund 130 Familien im Jahr für bis zu sechs Monate nach Geburt oder Diagnosestellung. Im Fokus steht erstmal alles Medizinische, die Versorgung des Kindes. Doch wie entlässt sie diese Familien in den Alltag? Wie werden sie stark genug für den tobenden Vergleich? „Die Mütter brauchen alle Kraft für sich, die können sich nicht den ganzen Tag auch noch verteidigen,“ erzählt Molfenter. Stärkend für Mütter seien immer andere Mütter und Eltern, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Und so vernetzt sie die Mütter untereinander und macht auf Selbsthilfegruppen aufmerksam – wie den Verein Rückenwind in Esslingen oder das PauLe, das Zentrum für Familie und Selbsthilfe der Lebenshilfe Kirchheim.

Julia Sigmund hat das PauLe mit aufgebaut – dort gibt es inklusive Krabbelgruppen, Frühchen-Treffs, internationale Spielgruppen und offene Angebote zur Selbsthilfe. Und ihre Erfahrung ist: „Am Anfang brauchen diese Eltern einen Schonraum, der Vergleich mit anderen Müttern schmerzt einfach zu sehr.“ Oft seien nämlich auch die Themen anderer Mütter kaum auszuhalten. So ein Dogma wie: Mit fünf Monaten gibt es den ersten Brei, sei für diese Mütter nahezu absurd. Bei vielen Kindern mit Behinderung ginge es schlicht darum, dass sie gut essen und zunehmen. Egal ob von Flasche, Brust oder Brei.

Und so gibt es in den PauLe-Krabbelgruppen andere ungeschriebene Gesetze: Zum Beispiel werden die Kinder immer nur mit Namen vorgestellt, über alles Weitere kann reden, wer mag – dann, wenn Vertrauen entstanden ist. Franziska Fallscheer hat das in ihrer ersten Krabbelgruppe anders erlebt: Eigentlich fühlte sie sich durch ihre ersten drei Kinder gut gestärkt im Wettbewerb der Mütter. Doch dann stand sie mit ihrem vierten Kind Oskar vor der Runde und fühlte sich doch gezwungen, ihren Jungen zu erklären. „Oskar ist aber Oskar und nicht Oskar mit…“, sagt sie und zieht ihren Sohn enger an sich. Sie verlässt die Krabbelgruppe und landet im PauLe. „Hier geht es nie darum, welches Kind was wann kann. Hier kann ich Mut zusprechen, auch wenn ich selbst noch welchen brauche.“

Franziska Fallscheer lernt im PauLe Christina Lange kennen, sie tanzen und singen mit ihren Kindern, kämpfen sich gemeinsam durch den Pflegegeld-Dschungel und schaukeln die Babys der anderen auf dem Schoß, wenn die eine mal nicht mehr kann. Und Christina Lange lächelt: „Hier ist meine Tochter nicht die, die nicht Bobbycar fährt, sondern das Kind mit den schönen Haaren, dass die Farbe Rot mag und so gern Gitarren-Musik hört.“

 

Was stärkt die Eltern eines Kindes mit Behinderung?

Andere Eltern, die die Sorgen und Ängste kennen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, seien extrem hilfreich, sagt Julia Sigmund vom PauLe – dem Zentrum für Familie und Selbsthilfe der Lebenshilfe Kirchheim. Alle Eltern eines Kindes mit Behinderung seien schnell Profis in der Versorgung ihres Kindes und haben Tipps von Frühförderstellen. „Das Wichtigste ist natürlich, dass das Kind gut schnaufen kann, Nahrung aufnimmt, wächst und gedeiht.“ Und wenn das geschafft sei, gingen die meisten Eltern in die Verarbeitung, in die Trauer darüber, dass das Leben mit diesem Kind anders ist, als man es sich gewünscht hat.

Zeit für Schönes bliebe den Eltern da kaum. „Auch wenn das Kind vielleicht gerade glücklich lächelnd bunten Tüchern nachschaut, denkt die Mutter vielleicht: Oh, eigentlich sollte es schon klatschen und sitzen können! Sie haben diese ganzen Tipps und auch Defizite immer mit im Kopf“, erzählt Julia Sigmund. Und dieser medizinische Kontext, so elementar wichtig er sei, sei für diese Mütter eben nicht stärkend.

Stark mache die Gemeinschaft mit anderen Müttern, die einander verstehen, Ängste und Sorgen kennen, das Kind annehmen, ohne zu urteilen. Und so geht es in den PauLe-Spielgruppen immer darum, die Mütter miteinander zu verbinden, sie zusammen stark zu machen.

Welche Empfehlungen geben betroffene Mütter eines erwachsenen Kindes mit Behinderung? Was hat sie stark gemacht? Der Sohn von Monika Kaufmann (Name von der Redaktion geändert) kam 1992 zur Welt und hat eine geistige Behinderung. Sie leben auf dem Dorf, sind eng eingebunden in die Nachbarschaft, die Vereine und die Kirchengemeinde. Von Anfang an nimmt sie ihren Andi überall mit hin. „Mich kannten sowieso alle“, sagt sie und lacht. Ihre Haltung sei irgendwann gewesen: Der Andi ist der Andi und das ist gut so. Ihr Rat: „Lasst die Gesellschaft von Anfang an mit eurem Kind groß werden. Traut euch, geht raus, nehmt euer Kind überall hin mit. Das wird gut.“

Im PauLe – dem Zentrum für Familie und Selbsthilfe der Lebenshilfe Kirchheim – sind alle Familien willkommen, die ein Kind mit Behinderung oder Beeinträchtigung haben, auch bei den allerersten Fragen oder Sorgen und auch schon in der Schwangerschaft. Geschwisterkinder können selbstverständlich mitgebracht werden. Weitere Infos gibt es unter www.lebenshilfe-kirchheim.de. nr