Attestpflicht, Nachsitzen, Bußgelder, Schulausschluss – die Liste möglicher Sanktionen ist lang. Davon abschrecken lassen sich immer weniger Schülerinnen und Schüler, die dem Unterricht unentschuldigt fernbleiben. Schulschwänzen hat sich nach Meinung von Lehrkräften inzwischen zum Massenphänomen entwickelt. Besonders betroffen: Berufsschulen. Dort wird der Zusatzaufwand für Nachholtermine, Ursachenforschung und Strafaktionen zunehmend zum Problem. „Unser Alltag wird inzwischen beherrscht von diesem Thema“, sagt Martin Zurowski, geschäftsführender Schulleiter der beruflichen Schulen im Kreis Esslingen. Zurowski ist Rektor der Nürtinger Albert-Schäffle-Schule. Vom Austausch mit anderen gewerblichen Schulen im Kreis weiß er, dass er mit diesem Problem nicht allein ist.
Unser Alltag wird beherrscht von diesem Thema.
Martin Zurowski, geschäftsführender Schulleiter der Berufsschulen im Kreis, über Schulabsentismus.
Doch was ist der Grund? „Den einen Grund gibt es nicht,“ sagt Zurowski. „Wir erleben die ganze Bandbreite.“ Überforderung, Schulmüdigkeit, allgemeiner Frust oder familiäre Probleme sind laut Kultusministerium mögliche Ursachen. Auch Mobbing oder Gleichgültigkeit der Eltern können Auslöser für Schulabsentismus sein. Für viele Pädagogen spiegelt sich darin ein gesellschaftliches Phänomen, das die Covid-Pandemie vor fünf Jahren, während der es zu Schulschließungen kam, maßgeblich befeuert hat. Seitdem hätten sich die Zahlen nie mehr richtig erholt, sagt Zurowski. Dass Schüler mit Migrationshintergrund auffallend oft im Unterricht fehlten, kann der Schulleiter nicht bestätigen. Das Problem ziehe sich durch alle Gruppen und Schichten. Sein Fazit klingt ernüchternd: „Die Notwendigkeit, regelmäßig die Schule zu besuchen, wird schlicht nicht mehr gesehen.“
Die klare Analyse ist schwierig. Belastbare Zahlen gibt es keine, weil die Schulverwaltung diesbezüglich keine Statistik führt. Eine Umfrage des Berufsschullehrerverbands unter 230 beruflichen Schulen hat im März für Aufsehen gesorgt und auch die Landespolitik für das Thema sensibilisiert. Demnach gaben rund 90 Prozent der befragten Schulen an, mindestens ein Drittel der Schülerinnen und Schüler fehle häufig. An etwa 40 Prozent der Schulen kommt sogar nur gut die Hälfte regelmäßig zum Unterricht.
Landtagsabgeordnete wie der Kirchheimer SPD-Politiker Andreas Kenner werfen der Landesregierung vor, die Lage zu verharmlosen: „Wenn die Fachleute selbst schon den Begriff alarmierend verwenden“, sagt Kenner, „dann haben wir ein echtes Problem.“ In Zeiten fortschreitenden Fachkräftemangels, betont der Parlamentarier, könne man sich Schulabsentismus schlicht nicht leisten. Die Opposition im Land fordert daher schon länger zusätzliche Verwaltungskräfte und deutlich mehr Schulpsychologen und Schulsozialarbeiter.
Ein gutgemeinter Vorstoß. Allerdings: Er sehe nicht, woher das Geld für dieses Personal kommen soll, meint Schulleiter Martin Zurowski. Zudem erreicht die Schulsozialarbeit längst nicht alle. Es gebe genügend Schüler, die ließen sich dort gar nicht blicken. „Wir können ja keinen mit der Peitsche dorthin treiben“, meint der Rektor. In der Albert-Schäffle-Schule, die den kaufmännischen Bereich abdeckt, werden Eltern per Einschreiben informiert, wenn der Nachwuchs in mehr als 15 Prozent des Unterrichts unentschuldigt fehlt. In der dualen Ausbildung ist die Situation weniger alarmierend. Wer in der Ausbildung steckt und in der Probezeit ist, läuft Gefahr, den Ausbildungsplatz zu verlieren.
Was Pädagogen vermissen, sind klare Vorgaben und Regeln. In der Schweiz wird darüber debattiert, jeden von Prüfungen auszuschließen, der nicht mindestens 80 Prozent des Unterrichts besucht hat. „So etwas würde ich mir auch hier wünschen“, sagt Martin Zurowski, der dann doch noch eine Lanze für seine Schülerinnen und Schüler bricht: „Die allermeisten sind ja wirklich nett“, meint er. „Es wäre nur schön, wenn sie häufiger da wären.“
Schulschwänzen ist eine Ordnungswidrigkeit
In Deutschland herrscht Schulpflicht bis zum Ende des Schuljahres, in dem das 18. Lebensjahr vollendet wird. Entweder in Vollzeit, wie an Gymnasien, oder als berufsbegleitender Unterricht während einer Ausbildung. Für die Erfüllung der Schulpflicht sind die Bundesländer zuständig.
Wer die Schulpflicht verletzt, begeht eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeld bestraft wird. Die Tagessätze liegen in der Regel zwischen 20 und 30 Euro, die von den Ordnungsämtern der Kommunen verhängt werden. Bis zum 16. Lebensjahr haften dafür die Eltern.
Bei Verstößen gegen die allgemeine Schulpflicht, die auf schwerwiegende Probleme im Elternhaus hindeuten, können Schulen die zuständigen Jugendämter einschalten. Gibt es Anhaltspunkte für eine sogenannte Kindeswohlgefährdung, kann Eltern das Sorgerecht entzogen werden. bk