Kirchheim
Schwäbische Dialektliteratur der Gegenwart

Lesung Johannes Lahn und Daniel Bihon bieten in Jesingen Zeitgenössisches. Das Interesse war groß.

Kirchheim. Dialekt liegt für jeden, der hierzulande aufgewachsen ist, sozusagen auf der Zunge. Zur Orientierung gab es vor kurzem die Ausstellung im Max-Eyth-Haus „Baden-Württemberg erzählt“. Auf Einladung des Netzwerks „Miteinander für Jesingen“ in Kooperation mit dem Literaturbeirat der Stadt Kirchheim gab es dazu als Begleitprogramm einen Abend mit aktueller Dialektdichtung. Der Saal der Gaststätte „Zum Hallenwirt“ in Jesingen war rappelvoll, als Ingrid Gaus die Gäste begrüßte.

Kein volkstümlich Derbes

Der Veranstaltungsort war nur sinnvoll. Der Dialektdichter Johannes Lahn ist in Jesingen aufgewachsen und lebt heute noch dort. Im Jahr 1951 geboren legte er – auf hochdeutsch – am LUG sein Abitur ab. Nach seinem Studium arbeitete er in der Privatindustrie, vor allem aber als Lehrer mit den Fächern Deutsch und Sport. 2021 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband „Gedangafeza -frisiert oder au schdrubbelig“. Es sind Texte aus den Jahren 2019-2020. Daraus las er, bereichert mit neueren Produktionen, vor. Der Musiker Daniel Bihon gab mit Gitarre den musikalischen Rahmen.

Dialektdichtung im Wirtshaus – da erwartet man im Bierdunst Konservatives und volkstümlich Derbes. Johannes Lahn schlug gleich andere Töne an, als er erzählte, wie er dazu kam, Gedichte zu schreiben. Aufschluss dazu gaben kurze Gedichte: In „Dagdraum“ werden Tagträume gepriesen, die das Gemüt aufschließen und weltoffen machen. Noch wichtiger sind die Nächte: „Gedanken können ungestört verschweifen/und Ungeahntes unbemerkt kann reifen.“ Wenn Lahn grundsätzlich wird, dichtet er auch kurz auf hochdeutsch. Sein Jesinger Schwäbisch bewegt sich auf einer Mittellage zwischen Stuttgarter Hochschwäbisch und kernigem Albschwäbisch. Er ist kein „verhockter Schwab“ (Thaddäus Troll), sondern weltläufig im geistigen Sinn. Von einem solchen Poeten sind keine volkstümlichen Allerweltsreime zu erwarten, sondern solche gemäß Brechts Diktum „Das Volk ist nicht -tümlich“. Lahn beschäftigen Sinnfragen des Lebens, das zeigen seine Leseproben („des muasch wella“). Das Leben muss zufriedenstellend sein und darf sich nicht von äußerlichen Faktoren bestimmen lassen.

Nach dieser Einstimmung vermittelte Daniel Bihon mit seiner Gitarre, wie schwäbisch gesungen klingt: kräftig und doch auch poetisch, wenn englische Songs ins Schwäbische übersetzt werden und erst recht, wenn es sich um schwäbische Originalsongs handelt.

Nun folgte eine Überraschung: Die nächsten Gedichte lasen zwei gute Freunde Lahns, zuerst der Freund seit den Studienzeiten, der Musiker Uli Wagner, und dann Hans Gregor, der ehemalige Rektor der Jesinger Schule. Sie rühmten ihren Johannes als Menschen mit Herz und Humor und seine Gedichte als „authentisch“. Johannes ist Demokrat, der auch andere Meinungen gelten lässt. Für diese Behauptungen lieferten die Freunde Textbeispiele, die durch ihre Auswahl besonderes Gewicht bekamen. .

Ernste Themen der Gegenwart

Nach einer Pause kam der Poet wieder zu Wort, der sich selbst bescheiden als „Handwerker“ versteht, der Gedichte „bastelt“, mit ernsten Themen der Gegenwart, bei denen er eine politische Grundeinstellung offenbarte, die alles andere als konservativ ist, beispielsweise in den Gedichten über die Greta-Generation, den Flüchtlingen, der Kindererziehung.

In der Schlussrunde durften alle nochmal ran, vor allem der Musiker. Nun konnten die Schleusen des Wohlgefühls am Dialekt geöffnet werden mit Absingen schwäbischer „Hymnen“ und mit Schunkeln, der Berichterstatter ohne schlechtes Gewissen mittendrin. Der 2021 verstorbene Tübinger Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger hat recht: „Dialekte scheinen gerade im Zeitalter der Globalisierung den Menschen eine Heimat zu geben. Denn das Bedürfnis nach lokaler Identifikation wächst.“ Der Dialekt schütze vor allzu großem Pathos und bedeute einen rebellischen Unterton. In Johannes Lahns Texten findet sich die Bestätigung. Leider schrumpfen die Dialekte durch die modernen Medien und die Mobilität immer mehr. Schade. Ulrich Staehle