Was waren das Zeiten, als die Musikauswahl im Radio noch nicht vom Computer kam. Als die musikalische Speisekarte noch nicht vom Einheitsbrei dominiert war, und bestimmte Stilrichtungen ihre Sendungen und Nischen hatten. Wo erklingt denn heute noch Salonmusik im Stile der 1920er-Jahre, wenigstens mal für eine halbe Stunde?
Der Bedarf wäre da, das zeigte die mit rund 170 Zuhörern gefüllte Kirchheimer Auferstehungskirche beim Konzert des Salonmusik-Ensembles „Fracklos“ am Freitag. Das Ensemble, das im Rahmen des Kulturprogramms der Kirchheimer Vesperkirche auftrat, besteht aus sechs Künstlern, allesamt auf professionellem Niveau. Der Tenor Christoph Schimeczek, der auch durch das Programm führte, sang in jungen Jahren im Tölzer Knabenchor, nahm nach dem Umzug mit 13 Jahren in der Region Gesangsunterricht. Vier der fünf Musiker haben an den Musikschulen in Ostfildern und Filderstadt unterrichtet oder tun es heute noch. Seit drei Jahren ist das Ensemble in dieser Zusammensetzung unterwegs und erfreut die Zuhörer mit warmherziger, lieblicher, schwungvoller und durchweg handgemachter Musik.
Ein gewisser Anachronismus
Am besten kamen bei den Zuhörern jene Klassiker an, die man nicht groß ankündigen muss. Wie in der Filmoperette „Die Drei von der Tankstelle“ die Freundschaft besungen wird, und ohne was die Mimi nie ins Bett geht, war genauso bekannt und beliebt wie der „kleine grüne Kaktus“.
Zu Beginn gab Pfarrer Axel Rickelt eine kurze Empfehlung, wie ein derartiges Konzert am besten zu genießen sei: „Wehre der Musik nicht, wo es welche zu hören gibt, hemme den Erguss deiner Rede.“ Diese jahrtausendalte Weisheit ist in Jesus Sirach, einer apokryphen Ergänzung zum Alten Testament, zu lesen. Dann ging es mit der 1912 komponierten „Heinzelmännchens Wachtparade“ los, die ihren Glanz über mehr als ein Jahrhundert erhalten konnte. Max Raabes „Kein Schwein ruft mich an“ atmet zwar den Geist der 1920er-Jahre, wurde aber erst 1992 komponiert. Ein gewisser Anachronismus ist der darin besungene Anrufbeantworter: Er wurde erst 1938 von Willy Müller erfunden und konnte am Anfang nicht mal aufzeichnen.
Ob tanzend wie bei der Klarinettenkomik aus dem Film „Wunschkonzert“, träumerisch wie bei der Serenata des Italieners Enrico Toselli, oder leidenschaftlich wie bei „Rumänisch“ von Josef Knümann, das Ensemble erfreute die Zuhörer sehr vielseitig. „Ich fahre so gerne hinaus“ aus den 1950er-Jahren wurde in Kuchen im Filstal komponiert, von den Schwestern Lisa und Rosemarie Reischmann. Nicht nur zu diesem langsamen Walzer hätten die Besucher in der Kirche tanzen können, auch zum „Original Charleston“ von Cecil Mack. Christoph Schimeczek gab für das heimische Wohnzimmer eine Tanzbeschreibung aus dem Jahr 1925 zu Gehör: „Der Torso zittert - dazu werden Bewegungen der Hüfte, Schenkel und Hinterbacken durchgeführt. Die Hände sind aktiv und berühren alle Teile des Körpers wie in Ekstase. Dazu kommen die abwechselnden X- und O-Beine.“ Das war aber nur eine Beschreibung für zuhause und ist kein Grund für Sittenstrenge, den Bischof über vermeintlich lästerliches Treiben zu informieren. Auch solche Tanzmusik lässt sich gediegen genießen, genauso wie der Foxtrott „Ferien“ oder der Walzer „Estudiantina“ von Emile Waldteufel. „Regentropfen“ aus dem Jahr 1935 war dann wieder ein eingängiger Schlager des Kölner Kapellmeisters Emil Palm, der keinerlei Ansage bedurfte.
Was das Ensemble „Fracklos“ kurz am Schluss sang, „Das gibt’s nur einmal“ aus dem Film „Der Kongreß tanzt“, das war hoffentlich nicht ernst gemeint. Dieses wunderbar unplugged und ebenbürtig aufspielende Ensemble wird eine Kirche oder einen anderen Ort hoffentlich noch öfters in einen Salon verwandeln. Und falls das noch jemand bezweifelt: Man kann auch fracklos sehr gediegen gekleidet vors Publikum treten. Am Ende gab es viel Applaus, als Zugabe „Sag zum Abschied leise Servus“ und viel Erlös für die Kirchheimer Vesperkirche.