Kirchheim
„Sehr notwendig sind die Zeitungen“

Kriegsende Marta Schieber spricht im Dezember 1918 im Kirchheimer Tyroler über verschiedene Wege zur Politisierung. Alle Parteien laden zu Versammlungen ein. Lazarette werden aufgelöst, Wahlen stehen bevor. Von Andreas Volz

Die Revolution Ende 1918 führte zu Umwälzungen auf vielen Gebieten. Eine der bedeutendsten war die Einführung des Frauenwahlrechts. Die „bekannte Stuttgarter Rednerin Frl. Marta Schieber“ klärte heute vor hundert Jahren im Kirchheimer Tyroler über Rechte und Pflichten auf, die sich daraus ergeben. Vor allem stellt sie dabei klar: „Ohne Revolution hätten wir das Stimmrecht für Frauen noch lange nicht bekommen.“

Sie spricht an, „daß die große Menge für diese Aufgabe ungeschult ist“. Zur politischen Bildung empfiehlt sie drei Wege, die sich gegenseitig ergänzen: „Sehr notwendig sind die Zeitungen. Sie müssen wir zur Hand nehmen.“ So zitiert sie der Teckbote am 16. Dezember 1918. Zweiter Punkt: „Auch die Versammlungen der Parteien sind wichtig.“ Drittens spricht sie „besondere Kurse“ zur Politisierung an: „Der bürgerliche Verein für Frauenstimmrecht, der lange schon vor dem Krieg bestand, hat jetzt solche Kurse eingerichtet.“

Zwei Vorurteile greift Marta Schieber an: dass die Frau keine Zeit habe, sich um Politik zu kümmern, und dass sie „zu schade“ sei für die Politik, „die den Charakter verdirbt“. Beides lässt sie nicht gelten: „Wenn wir helfen, unser armes Vaterland und Volk in eine bessere, glücklichere Zukunft hineinzuführen, so sind wir für unsere Arbeit reichlich belohnt.“ Deshalb ruft sie alle Frauen zur Mitarbeit auf, stellt aber fest, sie dürften „das Parteiinteresse nicht über das Allgemeininteresse stellen“.

Dass letzteres nicht selbstverständlich ist, zeigt sich bereits auf der Versammlung selbst: Am Donnerstag, 19. Dezember 1918, ist von einer „Arbei­tersfrau“ zu lesen, die am Sonntag im Tyroler „ihre Ansicht mit ungeschulten aber mutigen Worten“ vertreten, damit aber „lautes Lachen“ im Saal ausgelöst habe. Die anonyme Schreiberin wirbt nun für politische Vielfalt: „Wir wollen doch im neuen Deutschland uns Mühe geben, die Klassenunterschiede zu verwischen und lernen, auch die andersdenkenden Menschen zu verstehen. […] Wollen wir künftighin das Lachen über andere nicht lieber unterlassen und uns bemühen, uns liebevoll in Andersdenkende hineinzuversetzen?“ Das ist wahrhaft revolutionär im Sinne von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“.

Ebenfalls „brüderlich“ wirkt es, wenn fast alle Parteien auf Sonntag, 22. Dezember 1918, zu Versammlungen einladen: Zentrum, USPD, SPD und die Deutsche demokratische Partei, die bislang schon am aktivsten war. Jetzt ist es aber keine explizit politische Versammlung, zu der sie in den „Adler-Saal“ lädt, sondern eine „Begrüssungs-Feier der ausmarschierten Krieger mit Familien - unter gütiger Mitwirkung der Gesangvereine Eintracht u. Liederkranz“.

Auf einen ganz anderen Sachverhalt, der ebenfalls die „Krieger“ betrifft, verweist das Kirchheimer Rote Kreuz am 19. Dezember 1918: „Anläßlich der Auflösung des Vereinslazaretts Kirchheim u. Teck (Ficker und Spital) schuldet der Bezirksverein allen Wohltätern der Lazarette vielen Dank.“ Der Dank gebührt den Spendern, die sich um „Einrichtung, Ausschmückung und Unterhaltung“ der Lazarette verdient gemacht haben. Über die Gründe der Lazarettschließung wird nichts mitgeteilt. Aber vermutlich ist auch das ein Zeichen dafür, dass sich das Leben nach dem Krieg wieder normalisiert: Zumindest gibt es an keiner Front mehr Kämpfe, die für frischen „Nachschub“ in den Lazaretten hätten sorgen können.

Letzter Hinweis auf Normalität in der Woche vor Weihnachten 1918: Am 20. Dezember druckt der Teckbote amtliche Anweisungen „An die Herren Ortsvorsteher“, mit genauen Hinweisen, wie diese ihre Wählerlisten zu erstellen und genehmigen zu lassen haben und wie anschließend die Postkarten mit der Wahlbenachrichtigung zuzustellen sind. Die Wahl, um die es geht, ist für Sonntag, 12. Januar 1919, angesetzt: Es ist die „Wahl für die verfassunggebende württ. Landesversammlung“. Das ist nun tatsächlich revolutionär: Zwar gab es schon hundert Jahre zuvor eine Verfassung im Land. Aber 1819 war diese noch nicht von gewählten Volksvertretern erarbeitet worden. Seinerzeit hatte sie König Wilhelm I. noch als „Gnadenakt“ erlassen.