Kirchheim
Selbstbestimmung der Frau: „Das war längst überfällig“ 

Schwangerschaft Pro Familia in Kirchheim begrüßt die geplante Abschaffung des Paragrafen 219 und wünscht sich eine Beratung auf freiwilliger Basis. Von Thomas Zapp

Unter der Ampelkoalition soll er nun endgültig fallen: Die Tage des Paragrafen 219a sind gezählt. „Wir begrüßen das sehr. Den Paragrafen 219a zu streichen, war längst überfällig. Sachliche Information ist keine Werbung, die ist den Ärzten laut Standesrecht ohnehin verboten“, sagt Andrea Reicherzer, Leiterin der Beratungsstelle Pro Familia in Kirchheim. Bislang wurden Informationen über Schwangerschaftsabbrüche als „Werbung“ interpretiert und unter Strafe gestellt. „Das Gesetz hat nur bewirkt, dass Abtreibungsgegner Ärzte und Ärztinnen diffamieren konnten“, sagt sie. 

Eine Reform des Paragrafen im Jahr 2019 habe zwar bewirkt, dass Ärztinnen und Ärzte auf ihren Homepages grundsätzlich darüber informieren durften, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. „Aber weiterhin können sich Frauen nicht umfassend informieren, etwa über Methoden und Rahmenbedingungen des Abbruchs“, sagt Andrea Reicherzer.

Dass nun der Wegfall des „Werbe-Verbots“ zu vermehrten Schwangerschaftsabbrüchen führen könnte, hält die Pro Familia-Leiterin für „zynisch und frauenverachtend“. „Es geht hier um eine weitreichende Entscheidung für Frauen, da kann man doch nicht so tun, als würden sie diese mal eben so aufgrund einer Werbung treffen. Was steckt da für ein Frauenbild dahinter?“

Grundsätzlich müsse die Beratung ergebnisoffen sein, Verständnis wecken, aber nicht belehren oder bevormunden, sagt sie. Das gelte sowohl für eine überkonfessionelle Stelle wie Pro Familia als auch für die Betreuungsstellen der Kirche. „Wir bekommen auch immer mal wieder Fotos von Kindern, die Frauen nach der Beratung bei uns bekommen haben. So etwas freut uns natürlich“, sagt Diplom-Psychologe Joachim Elger, der ebenfalls bei Pro Familia arbeitet.

Auch Debatte über §218 nötig

Die Debatte müsse nun weitergeführt werden, meint Andrea Reicherzer im Hinblick auf den Paragraphen 218: Der deklariert den Schwangerschaftsabbruch als Straftat mit Ausnahme des Abbruches nach erfolgter Beratung bis zur 12. Schwangerschaftswoche oder aufgrund einer medizinischen oder kriminologischen Indikation. „Das ist eine Stigmatisierung der Betroffenen“, meint die Diplom-Sozialarbeiterin. „Der Paragraph gehört nicht in das Strafgesetzbuch, sondern in die Gesundheitsversorgung“, meint sie. Aktuell gibt es im Landkreis wenig Möglichkeiten, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen. In der Ärzteschaft gebe es noch eine große Angst vor Kriminalisierung, glauben die Pro Familia-Mitarbeiter. Ohnehin sei die Frau in ihrer freien Entscheidung und die Familie der beste Schutz für das ungeborene Leben. Für Andrea Reicherzer sollte die gesamte Konfliktberatung nicht verpflichtend, sondern freiwillig sein.

Die Gründe für eine Konfliktberatung liegen übrigens selten am Alter. Der Anteil der Minderjährigen, die in Kirchheim wegen einer ungewollten Schwangerschaft beraten werden, ist gering: Er liegt bei 1,8 Prozent. „Der Großteil der Frauen ist zwischen 26 und 36 Jahre alt, 60 Prozent geben an, bereits Kinder zu haben und überlastet zu sein oder berufliche Nachteile zu fürchten“, sagt Joachim Elger. Die Mehrheit der Beratungen führt Pro Familie übrigens für Schwangere und werdende Eltern durch.

 

Die Arbeit von Pro Familia in Zahlen

 

In Kirchheim wurde die Beratungsstelle im Jahr 1981 gegründet. Das Team besteht aktuell aus vier Fachkräften, die auf 2,27 Stellen verteilt sind. Neben Andrea Reicherzer und Joachim Elger gehören Kathrin Wagner und Anna Reinkowski dazu. Als staatlich anerkannte Schwangerenberatungsstelle und Träger der Jugendhilfe berät sie zu allen Fragen rund um Schwangerschaft, Geburt, Elternschaft, Familie, Sexualität, Partnerschaft, Familienplanung, Gesundheit und Prävention.

Im Jahr 2021 half Pro Familia in Kirchheim in insgesamt 639 Fällen mit 816 Beratungen. Darunter waren 246 Menschen in der Schwangerschaftskonfliktberatung gemäß Paragraf 219 in der Beratung und Begleitung vor, während und nach pränataler Diagnostik oder in der Beratung nach Abbruch.

Die Beratung zu Schwangerschaft oder Elternschaft nahmen im vergangenen Jahr 328 Personen wahr. Darin ging es auch um Vermittlung von sozialen und finanziellen Hilfen wie Elterngeld oder von der Stiftung Mutter und Kind sowie um Beratung bei Krisen vor und nach Geburt, bei partnerschaftlichen Krisen im Kontext von Geburt, Familiengründung und Familienleben oder bei Fehl- oder Totgeburt.

Zu Familienplanung, Verhütung und Gesundheit gab es 2021 sechs Beratungen, darunter psychologische Begleitung bei unerfülltem Kinderwunsch oder sexuell übertragbaren Infektionen.

Partnerschaft und Sexualität war in 46 Fällen Gegenstand der Beratung von Paaren und Menschen in Beziehungskrisen, Fragen der Sexualität, Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung sowie psychologische Hilfe in schwierigen Lebens­lagen. pm