Kirchheim
Sexuelle Gewalt: Erst helfen und Spuren sichern - die Anzeige kann warten

Gesundheit Opfern von sexualisierter Gewalt wird an der Medius Klinik Ruit ab sofort der Zugang zur medizinischen Erstversorgung erleichtert, ohne die Pflicht bei der Polizei eine Anzeige zu stellen. Von Thomas Zapp

Sexualisierte Gewalt führt bei den Opfern nicht nur zu einem Gefühl der Erniedrigung und Scham. Häufig kennen sie auch die Täter, haben ein persönliches Verhältnis zu ihnen oder leben gar mit ihnen zusammen. Das hält viele davon ab, sich an ein Krankenhaus zu wenden, weil sie befürchten müssen, dass gleich die Polizei eingeschaltet wird. Auf Anregung der Gleichstellungsreferentin Barbara Straub, der Kirchheimer Beratungsstelle Kompass und des Esslinger Pendants Wildwasser hat daher die Medius Klinik Ruit ab sofort ein neues Angebot geschaffen: Sie ermöglicht Opfern eine medizinische Soforthilfe ohne polizeiliche Anzeige, als erste Klinik im Landkreis.

Beim Chefarzt für Frauenheilkunde an der Medius Klinik, Dr. Michael Burkhardt, haben die Beraterinnen mit ihrer Idee sofort offene Türen eingerannt. „Uns geht es in erster Linie um die medizinische Versorgung von Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben. Jede Vergewaltigung ist ein medizinischer Notfall und sollte fachärztlich versorgt werden“, sagt er.

Bis 72 Stunden nach der Tat

Damit wird nicht nur medizinisch wichtige Zeit gewonnen, sondern bis maximal 72 Stunden nach der Tat können noch entscheidende Spuren gesichert und rechtssicher für ein Jahr im Archiv der Rechtsmedizin in Heidelberg eingelagert werden. „Bislang mussten wir immer warten, dass eine Anzeige bei der Polizei gestellt wird, weil sonst Spuren verwischt werden könnten“, erklärt Dr. Hanna Sommer, Assistenzärztin in der Gynäkologie der Medius Klinik. Jetzt rückt wieder die Erstversorgung in den Mittelpunkt, was die Mediziner besonders freut. Die anzeigenunabhängige Spurensicherung ermöglicht auch Monate später noch eine Anzeige und eine Strafverfolgung auf Basis dieser Beweise. 

Angelika Schönwald-Hutt von der Fachberatungsstelle Kompass in Kirchheim bestätigt das. „Wenn zunächst eine Frau keine Anzeige stellen möchte, muss man die Haltung akzeptieren“, sagt sie. Wichtig sei, die betroffene Person nicht zu drängen, sondern eine Distanz zu ermöglichen. Hinzu kämen Gefühle wie Kontrollverlust und Ohnmacht. In der Beratung müsse man daran arbeiten, eine Retraumatisierung zu verhindern. Wichtiger als die Anzeige sei zunächst die Stabilisierung der Person. Auch die Ärztin Hanna Sommer hat festgestellt, dass die Opfer, in der Mehrheit Frauen, von der Situation überfordert waren.

Dann gehe es darum, zu informieren, was im Falle einer Ermittlung auf die Person zukommen kann, sagt Professorin Julia Gebrande vom Vorstand des Esslinger Vereins Wildwasser. „Was kommt auf mich zu, mit wem muss ich sprechen?“, erklärt sie.    

Die Kirchheimer Beraterin ist froh, dass es dieses Angebot nun an einem großen Krankenhaus im Landkreis gibt. Die Frauen oder auch männliche Opfer sexualisierter Gewalt können sich einfach bei der Pforte des Krankenhauses melden, 24 Stunden lang, und werden dann diskret an die zuständige Station überwiesen. Das Personal ist dafür entsprechend sensibilisiert. „Das Gute ist, dass der Zugang für Frauen erleichtert wird“, sagt Landrat Heinz Eininger, der auch Aufsichtsratsvorsitzender der Medius Kliniken ist. „Ich bin hoch erfreut darüber, dass wir dieses Angebot in der Region an einer Klinik in unserem Verbund etablieren können“, fügt er hinzu. 

Im Kreis Esslingen sind 313 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung im Jahr 2020 angezeigt worden, darunter sexuelle Belästigung, Nötigung und Vergewaltigung. Bei schweren Straftaten wie Vergewaltigungen werden deutschlandweit nur etwa fünf Prozent zur Anzeige gebracht. Damit einher geht der Verzicht auf eine ärztliche Behandlung, aus Angst vor einer Anzeigenpflicht.

Das Angebot im Landkreis könnte aber nun richtungsweisend sein, deutschlandweit gibt es kein standardisiertes Verfahren. Im Land Baden-Württemberg sind an elf Standorten Modellvorhaben geplant oder befinden sich bereits in der Umsetzung. Ungeklärt ist in Esslingen allerdings noch die Finanzierung. Zunächst wurden die notwendigen Spurensicherungs-Kits und Erfassungsbögen, mit denen das medizinische Fachpersonal der Klinik arbeitet, mit Fördermitteln der Kreissparkasse Esslingen-Nürtingen unterstützt. „Die Verhandlungen mit den Krankenkassen dauern noch an“, sagt der Landrat. Unter anderem geht es um die Kosten der Behandlung, der Nachsorge und den Transport der Beweismittel. Da könnte der Bedarf bald steigen, wenn das Angebot bekannter wird und aus den vielen Dunkelziffern Menschen mit einem Gesicht und einer Geschichte werden.

Kontakt und Informationen

Die „anzeigenunabhängige ­Spurensicherung“ an der Medius Klinik Ostfildern-Ruit ist seit dem 6. Dezember möglich. Weitere Infos dazu finden sich auf www.gewalt-spuren-sichern.de. Darüber hinaus gibt es im Landkreis die Beratungsangebote Kompass in Kirchheim unter 0 70 21/61 32 und Wildwasser Esslingen unter 07 11/35 55 89. Die Medius Klinik Ostfildern ist unter der Telefonnummer 07 11/44 88 0 zu erreichen. Ansprechpartner sind Dr. Michael Burkhardt und Dr. Hanna Sommer. zap