Indem sie eine „kulturelle Veranstaltung“ angemeldet hatten, konnten die Nationalsozialisten vor 100 Jahren ein Versammlungsverbot umgehen und in Kirchheim einen großen Aufmarsch inszenieren. Zur „Sonnwendfeier“, die an alte Traditionen anknüpfen und keine politischen Inhalte haben sollte, versammelten
sich Ende Juni 1923 etwa 3 500 Parteimitglieder aus ganz Württemberg in Kirchheim, machten Station am Kriegerdenkmal sowie auf dem Marktplatz und zogen dann zur eigentlichen Feier aufs Hörnle. An dieses Ereignis und an seine Folgen erinnert derzeit eine kleine Ausstellung im Kirchheimer Max-Eyth-Haus.
„3 500 Nazis fallen in eine Kleinstadt ein“ – so fasst Dr. Jonas Takors, Geschichtslehrer am Schlossgymnasium, zusammen, was er gemeinsam mit Schülerinnen seiner „Geschichtswerkstatt“ erarbeitet hat: „Das hat eine Nachwirkung, auch für die Stadtgesellschaft.“ Auf mehreren Tafeln stellen die Schülerinnen dar, wie sich die Sonnwendfeier entwickelt hat und was die Folgen waren. Eine wichtige Quelle sind die damaligen Berichte im Teckboten. Jonas Takors: „Die Frakturschrift stellte zwar eine gewisse Hürde dar, aber da haben sich die Neuntklässlerinnen gut eingearbeitet.“
Die Polizeiberichte, die über den NSDAP-Aufmarsch angefertigt wurden, ließen sich in der Kürze der Zeit allerdings nicht auswerten: „Die sind handschriftlich verfasst, in Sütterlin.“
Über eine unmittelbare Folge hatte der Teckbote ebenfalls berichtet: Der SPD-Politiker Kurt Schumacher, damals gerade 27 Jahre alt, hielt im Tyroler in Kirchheim eine Rede, in der er – nur wenige Tage nach der Sonnwendfeier – über die „brutalste Machtanwendung“, die den Nationalsozialisten vorschwebe, und über deren „großmäuliges Gebaren“. Nicht ganz zehn Jahre später hatte die Partei „ihr einziges Ziel“ erreicht, „die Macht im Staate zu bekommen“, wie der Teckbote vor 100 Jahren Kurt Schumacher zitiert.
Die Geschichtswerkstatt des Schlossgymnasiums hat auch nach anderen Folgen der Sonnwendfeier gesucht. Ein Ergebnis: Bei der Reichstagswahl im Mai 1924 gab es in Kirchheim einen überproportionalen Stimmenanteil für die NSDAP. Ob das aber wirklich eine Folge der Sonnwendfeier war, da will sich Jonas Takors nicht festlegen, denn: „Auch die KPD hat damals in Kirchheim mehr Stimmen bekommen als im Durchschnitt.“ Möglicherweise hat also der Nazi-Aufmarsch zehn Monate zuvor generell für eine politische Radikalisierung in Kirchheim gesorgt, und zwar an beiden extremen Rändern des Spektrums.
Der Walfischkeller als Vorläufer
Die Sonnwendfeier auf der Teck hatte einen Vorläufer – im Dezember 1922 in Göppingen: Dort waren NSDAP-Anhänger aus München mit politischen Gegnern aneinandergeraten. Vom Apostelsaal zog der Münchner Sturmtrupp damals zum Walfischkeller, als Schüsse fielen. Der Polizei gelang es schließlich, „weitere Zusammenstöße zu verhindern“, wie es im Teckboten vom 13. Dezember 1922 hieß. Demonstrationen der einen Seite und Gegendemonstrationen der anderen Seite gehören also seit jeher zum Alltag in politisch aufgeheizten Zeiten. Um ähnliche Zusammenstöße im Juni 1923 zu verhindern, war der Aufzug der NSDAP eigentlich verboten worden, weshalb die Nationalsozialisten auf den Kniff mit der „Kulturveranstaltung“ verfielen.
In der Ausstellung der Geschichtswerkstatt gibt es noch Ausblicke auf weitere Folgen, jeweils in Zehn-Jahres-Schritten. Die Sonnwendfeier 1933 wurde bereits zum „Tag der Jugend“ stilisiert, nachdem die NSDAP Ende Januar tatsächlich die Macht im Staat übernommen hatte. Genau diese Jugend war es, die weitere zehn Jahre später im Zweiten Weltkrieg aufgerieben wurde und beispielsweise in Stalingrad ums Leben kam, gibt Jonas Takors zu bedenken. Der Weltkrieg ist sicher nicht die direkte Folge der Sonnwendfeier auf dem Hörnle vor 100 Jahren. Aber diese Feier im beschaulichen Kirchheim zeigt eben die Entwicklung auf, wie sich die Partei – unter Ausnutzung zahlreicher politischer Krisen – schließlich in die Position bringen konnte, den verheerenden Krieg vom Zaun zu brechen.
Jonas Takors geht es darum, zu zeigen, dass alle Ereignisse der „großen Geschichte“ auch im Kleinen, auch in Kirchheim nachvollziehen lässt. Letzteres beweisen Exponate aus dem Bestand des städtischen Museums: Stiefel von SA- oder SS-Angehörigen ebenso wie eine Hakenkreuzbinde und eine -standartenspitze – wie sie eben auch auf dem Hörnle zum Einsatz gekommen waren.
Die Ausstellung im Max-Eyth-Haus ist nur noch am Mittwoch, 28. Juni, und am Donnerstag, 29. Juni, zu sehen – von 10 bis 12 und von 14 bis 17 Uhr.