Kirchheim
Soziale Ungleichheit: „Der Staat muss 200 Euro drauflegen“

Hilfen Der Hartz-IV-Satz muss erhöht werden, denn die Corona-Krise hat die Polarisierung der Gesellschaft verschärft. Das sagt Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, der jetzt nach Kirchheim kommt. Von Thomas Zapp

Nach dem Erscheinen seines Buchs „Die polarisierende Pandemie“ könnte Christoph Butterwegge der Corona-Zeit noch weitere Krisen hinzufügen, die den Prozess der Polarisierung verstärken: Energiekrise und Inflation. Aber was kann die Politik gegen die Polarisierung in der Gesellschaft tun? Das Prinzip der Gießkanne ist es jedenfalls nicht, sagt der Politikwissenschaftler, der häufig auch als „Armutsforscher“ tituliert wird. „Nehmen Sie die Mehrwertsteuersenkung. Natürlich entlastet sie auch die Armen, aber in viel geringerem Maße als die Wohlhabenden“, sagt er im Gespräch mit dem Teckboten. Denn wer billigen Käse kaufe, spart weniger Geld als jemand, der sich den teuren Edelkäse beim Feinkosthändler leistet.

Stattdessen schlägt Butterwegge vor, den Regelbedarf für die Altersgrundsicherung und das auch Hartz IV genannte Arbeitslosengeld II zu erhöhen. Auf die derzeit 449 Euro pro Monat für Alleinstehende sollte der Staat mindestens 200 Euro pro Monat oben drauflegen, meint er. Ändern sollte man für Empfänger von Transferleistungen auch die Stromkosten. „Die müssten wie die Heizkosten in den Kosten der Unterkunft enthalten sein, momentan müssen sie jedoch aus dem Regelbedarf bestritten werden“, sagt der Wissenschaftler. Zwar sei ihm das Argument bekannt, dass dann zu viel verbraucht würde, aber dafür gebe es Kontrollmechanismen. „Die Agentur für Arbeit übernimmt ja auch nur die Mietkosten in angemessener Höhe“, sagt er. Ein höherer Hartz-IV-Regelsatz würde nicht nur drei Millionen Erwachsenen zugutekommen, sondern auch knapp zwei Millionen Kindern und Jugendlichen. „Im Übrigen sind knapp eine Million der Hartz-IV-Bezieher sogenannte Aufstocker, die im Niedriglohnbereich arbeiten und keinesfalls auf der faulen Haut liegen“, betont er.

 

„Der öffentliche Druck ist in Frankreich stärker.
Christoph Butterwegge 

 

Dass es Leistungsempfängern schlechter geht, dazu hat die Corona-Krise ihren unrühmlichen Beitrag geleistet: „Die Ungleichheit hat sich verschärft“, sagt Butterwegge. Wer in Gemeinschaftsunterkünften wohne, stecke sich leichter an, und Menschen aus weniger wohlhabenden Schichten hätten in der Regel ein schwächeres Immunsystem. Außerdem liefen sie eher Gefahr, wegen der Corona-Einschränkungen ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Was ihn ärgert: Die Wirtschaftshilfen in Höhe von 600 Milliarden Euro gingen an Großunternehmen wie Lufthansa und TUI. „Die kamen schon im Frühjahr 2020. Die Einmalzahlung für Hartz-IV-Empfänger in Höhe von 150 Euro kamen im Mai 2021, 14 Monate später.“ Die französische Studie Capgemini hat ermittelt, dass es in Deutschland  2021 rund 100 000 Vermögensmillionäre mehr als 2020 gab. Und dass ein Unternehmen wie BMW seinen Aktionären im Frühjahr 2020 nicht weniger als 1,46 Milliarden Euro an Dividende zahlte, zeige die fehlende Sensibilität einerseits und den fehlenden öffentlichen Druck andererseits. „Der ist in Frankreich stärker, wo es ausgeschlossen ist, dass eine Firma staatliche Mittel beansprucht und gleichzeitig Gewinne ausschüttet“, sagt er, Stichwort: „Gelbwesten“.

Mittelstand hat Angst vor Abstieg

Die Corona-Krise habe auch den Mittelstand in Angst vor dem sozialen Abstieg versetzt, etwa Soloselbständige, deren Existenz durch die Corona-Maßnahmen gefährdet wurde. Butterwegge, der sich auch als Rechtsextremismusforscher einen Namen gemacht hat, sieht sogar Potenzial für eine neue Rechte, die Unzufriedene aus der Mittelschicht anzieht. Die von Armut betroffenen Menschen würden überwiegend gar nicht mehr zur Wahlurne gehen. „Die Wahlbeteiligung bei der jüngsten Landtagswahl in NRW lag bei 55 Prozent, in von Armen, Arbeitslosen und Migranten bewohnten Stadtteilen teilweise nur bei 20 bis 30 Prozent“, sagt er. Noch erheblich geringer war die Beteiligung bei den Landratswahlen in Sachsen.

Was also tun? Butterwegge fordert in seinem Buch eine sozial-ökologische Wende. So hält er das viel kritisierte 9-Euro-Ticket für einen positiven Ansatz, „weil die Armen endlich mal Freunde und Verwandte in anderen Landesteilen besuchen können – und das auch tun“. Gleichwohl sei es nur ein soziales Trostpflaster, um sie für den Tankrabatt zu entschädigen, den sie über die Mehrwertsteuer mitfinanzieren – obwohl Arme selten ein Auto haben oder wenig damit fahren. Als Mittel gegen hohe Energiepreise hält er den Gaspreisdeckel für sinnvoller, wie ihn auch andere Länder praktizieren. Die Reaktion auf Russlands Angriff kritisiert er scharf: „Letztlich schaden die westlichen Wirtschaftssanktionen den Armen in Deutschland mehr als den reichen Oligarchen in Russland.“ Das sei eine völlig verfehlte Politik: „Und der Ukraine-Krieg wird dadurch auch nicht gestoppt.“

Butterwegges Fazit: Langfristig müsse es eine solidarische Bürgerversicherung geben, in die alle einzahlen und aus der eine Grundsicherung für Menschen finanziert werde, die aus dem System fallen. Hinzu müsse eine Vermögensabgabe, eine Vermögenssteuer und eine stärkere Besteuerung von Kapitaleinkünften kommen.

 

Vortrag am kommenden Mittwoch in der Zehntscheuer

Grundeinkommen Vom derzeit in vielen Fachkreisen diskutierten „bedingungslosen Grundeinkommen“ hält Christoph Butterwegge nichts. „Es ist keine Lösung, weil es ungerecht ist“, meint er. „Wer in Mecklenburg-Vorpommern in einem alten Haus wohnt und nur geringe Kosten hat, bekommt 1000 Euro, wer in München zur Miete wohnt, auch – nur hat der viel höhere Lebenshaltungskosten“, verdeutlicht der Politikwissenschaftler. Wichtig sei eine passgenaue Unterstützung, finanziert über eine Umverteilung von oben nach unten. Außerdem müsse ein Grundeinkommen auch bezahlt werden, gibt er zu bedenken.

Finanzierung Die vom Philosophen Richard David Precht postulierte Finanzierung über eine Finanztransaktionssteuer hält Christoph Butterwegge für unrealistisch: „Sogar die Globalisierungskritiker von Attac sprechen davon, dass damit gerade mal 20 bis 30 Milliarden Euro zusammenkämen; ein Grundeinkommen in Höhe von 1500 Euro monatlich, wie Richard Precht es fordert, würde aber 1,5 Billionen Euro kosten – rund 50 Prozent mehr, als der bestehende Sozialstaat für alle Leistungen zusammen ausgibt. Außerdem würden Menschen trotzdem arbeiten wollen, mit der Folge: „Die Reallöhne würden sinken, weil man ja neben dem Grundeinkommen nicht mehr so viel zum Leben braucht.“ Damit würde der Staat letztlich die Unternehmen subventionieren und die soziale Polarisierung weiter vorantreiben.

Vortrag Die Sozialverbände VdK, Awo und Diakonie haben Professor Christoph Butterwegge nach Kirchheim eingeladen. Der Professor hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaften an der Universität zu Köln gelehrt und jetzt das Buch „Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona“ bei Beltz Juventa veröffentlicht, Er spricht zu diesem Thema am Mittwoch, 13. Juli, ab 19 in der Zehntscheuer in Nabern, Alte Kirchheimerstraße 1. Einlass ist ab 18 Uhr, der Eintritt ist frei. zap