Kirchheim
Start mit angezogener Handbremse

Auftakt Im Landkreis wird seit gestern geimpft. Nach 150 Dosen war in den beiden Impfzentren in Esslingen und am Flughafen am ersten Tag Schluss. Die nächste Lieferung wird Anfang Februar erwartet. Von Bernd Köble

Es ist der Beginn, mehr aber auch nicht. Von Erleichterung oder gar Euphorie ist an diesem Freitagmorgen in der Halle 9 der Fildermesse wenig zu spüren. Wo sich sonst Aussteller und Besucher dicht an dicht drängen, hockt eine Handvoll Wartender auf weit auseinandergerückten Stühlen. Wie etwas zu groß geratene Umkleiden wirken die weißen Kabinen, vor denen Helfer des Malteser Hilfsdienstes die Abläufe überwachen. Es herrscht fast Stille, wäre da nicht das Häuflein Fotografen und Journalisten, die in gedämpftem Ton ihre Fragen stellen. Sie sind gekommen, weil es ein besonderer Tag ist. Es ist der Impfstart im Landkreis Esslingen, und er verläuft anders als noch vor Wochen geplant.

Mittendrin steht Marc Lippe. Der Mann mit der imposanten Statur ist Geschäftsführer des Malteser Hilfsdienstes. Gemeinsam mit DRK und Johannitern ist er die zentrale Figur bei der Organisation der beiden Kreisimpfzentren auf den Fildern und in Esslingen. Ihn scheint wenig erschüttern zu können, doch bis Donnerstag- abend musste auch er zittern. Um 18 Uhr, sozusagen in letzter Minute, kamen die versprochenen Container mit dem in Trockeneis bei minus 70 Grad gelagerten Impfstoff von Biontech an. Mit eintägiger Verspätung, aber immerhin. Insgesamt 1180 Dosen sind als erste Charge im Landkreis gelandet. Eine rechnerische Größe, die einem landesweiten Verteilschlüssel folgt. 80 Prozent davon sind für über 80-Jährige in der Bevölkerung bestimmt. Der Rest für medizinisches Personal in den Kliniken. Etwa 50 Dosen täglich gehen an zunächst zwei von später vier mobilen Teams, von denen eines gestern im Seniorenzentrum Steingaustift in Neckarhausen die ersten Nadelstiche setzte. In der Messehalle am Flughafen waren es gestern etwa 70 Impfdosen, die zum Start an Frau und Mann gelangten. Etwa dieselbe Menge wie in der Esslinger Zeppelinstraße.

Eigentlich sind beide Zentren auf 800 Impfungen täglich ausgelegt. Doch dafür fehlt im Moment der Nachschub. Die nächste Lieferung wird erst in zehn Tagen erwartet. Erst dann werden auch wieder neue Termine vergeben. Zugesagt ist dieselbe Menge wie zum Start. Wie viel tatsächlich ankommen wird? Keiner weiß es. Die Liefertermine bekomme man sehr kurzfristig mitgeteilt, sagt Marc Lippe. „Aber wer weiß, vielleicht geschieht ja ein Wunder.“

Immerhin: Alle, die gestern bis zum Nachmittag ihre erste Impfung erhielten, hatten spätestens beim Verlassen der Halle ihren Folgetermin in der Tasche. Um wirklich geschützt zu sein, braucht es in frühestens drei Wochen einen zweiten Stich.

Es sind auffallend viele Jüngere, die an diesem Vormittag in der Messehalle 9 der Dinge harren. Der Grund: Die Filderklinik in Bernhausen hat gleich zu Beginn einen Terminblock für ihre Mitarbeiter reserviert. Eine davon ist Bettina Tietke. Die medizinische Fachangestellte in der Onkologie musste nicht lange überlegen. „Für mich war klar, dass ich da sofort hingehen werde“, sagt die 55-Jährige, die überzeugt ist, dass alle ihre Kolleginnen und Kollegen so denken. „Das muss jetzt oberste Priorität haben“, unterstreicht sie. „Schließlich geht es auch darum, uns selbst zu schützen.“

Es gibt aber auch kritische Stimmen an diesem Morgen. „Es läuft nicht gut in diesem Land“, findet Iris Aker, die als Oberärztin in der Filderklinik arbeitet und dort gleichzeitig dem Betriebsrat vorsitzt. Ihre Kritik an der Strategie der EU bei der Beschaffung von Impfstoff ist scharf. Seit Wochen versucht sie einen Termin in Freiburg für ihre 94-jährige Mutter zu ergattern - ohne Erfolg. Einen Termin für sich selbst hatte sie auf eigene Faust in Tübingen zwar organisiert. Der wurde jedoch ersatzlos und ohne Angabe von Gründen wieder gestrichen. Der Zweittermin hätte in Rot am See im Hohenlohischen stattfinden sollen. Sie spricht von Impftourismus.

Die Mehrheit ist zufrieden

Das Gros der Menschen an diesem ersten Tag ist willig und zufrieden. „Die meisten sind froh, zum Zug zu kommen“, sagt Robert Rudolph, der hier drei Tage in der Woche die ärztlichen Aufklärungsgespräche übernimmt. Fragen gibt es so gut wie keine. Der Kirchheimer Urologe war schon im vergangenen Jahr im Corona-Abstrichzentrum nebenan im Einsatz und ist mit dem Engagement seiner Kollegen zufrieden. „Wie klaglos die Ärzteschaft im Kreis hier mitmacht, ist schon bemerkenswert“, meint er. Zu denen, die mitmachen, gehört auch Florian Bopp, bis voriges Jahr Chefarzt der orthopädischen Chirurgie in der Nürtinger Mediusklinik. Jetzt hat er als Ruheständler die ärztliche Leitung in den Kreisimpfzentren übernommen und mehr Zeit für Gespräche als eigentlich gedacht. Einen anderen Auftakt als den, den er heute erlebt, hätte auch er sich gewünscht. Er sagt: „Es ist ein Start mit angezogener Handbremse.“