Die christliche Kirche steht vor einer neuen Herausforderung: Seit Beginn der Aufzeichnung war 2022 in Deutschland das Jahr mit den meisten Austritten aus der Kirche: Mehr als eine halbe Million Katholiken entschieden sich, ihre Mitgliedschaft zu beenden; in der evangelischen Kirche waren es rund 380.000 Menschen.
Diese Entwicklung macht sich auch in der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Kirchheim bemerkbar. Es sind jedoch nicht nur junge Menschen, die sich für den Austritt entscheiden, berichtet Axel Rickelt, Pfarrer an der Auferstehungskirche. Der Altersquerschnitt sei breit. Besonders hoch seien die Austrittszahlen unter den Zugezogenen. „Viele Menschen scheinen den Rathausbesuch für die Anmeldung bei der Stadt gleich noch für den Kirchenaustritt zu nutzen“, beobachtet der Pfarrer. Jugendarbeiter Rene Gökeler spricht in diesem Kontext von einem regelrechten Trend: „Indem der Kirchenaustritt publik und salonfähig wird, befeuert er die Austritte immer weiter.“
Auch der erste Gehaltsscheck wird vermehrt zur Motivation für den Austritt, setzt der Pfarrer der Thomaskirche, Sebastian Bugs, hinzu. „Die Leute sehen, was sie eigentlich an Kirchensteuer bezahlen, und wenn ihnen das zu viel Geld ist, ist das eine berechtigte Entscheidung.“ Ein zwangsläufiges Bekenntnis zur Abkehr vom Glauben sei dies in seinen Augen nicht.
Dennoch legen die Zahlen nahe, dass die Zugehörigkeit zum Christentum unter jungen Menschen schwindet: Im Rahmen einer aktuellen Studie bezeichneten sich nur noch 43 Prozent der Deutschen unter 29 Jahren als christlich. Mit einer innigen Beziehung zu Gott ging das nicht unbedingt einher: Lediglich ein Viertel derer, die angaben, Christen zu sein, äußerten, dass Glaube in ihrem Leben eine wichtige Rolle spiele.
„Ich glaube, dass das vor 50 Jahren gar nicht so anders war“, meint Axel Rickelt. „Da waren die Mitgliedszahlen höher, aber für viele hat der Glaube sicher auch nur eine kleine Alltagsrolle gespielt.“
Ein neues Zeitalter des Glaubens
Doch die Lebenswelt junger Menschen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert. „Gemeinde ist aus einem Bedürfnis nach Zusammenhalt und Stärke entstanden“, erklärt Sebastian Bugs. „Heute werden die jungen Menschen zur Selbstständigkeit erzogen. Sie sind nicht so sehr auf eine Gesellschaft angewiesen, die ihnen bei allem unter die Arme greift.“
Auch die Vereinbarkeit von Glaube und Logik kann eine Rolle spielen. So erzählt Rene Gökeler, er habe in der Jugendarbeit vermehrt Schwierigkeiten damit beobachtet, Glaube und Wissenschaft unter einen Hut zu bringen.
Hinzu kommt, dass der Kirchenbesuch früher erwartet wurde, ergänzt Jugendarbeiter Felix Vogl. Während man früher beim Gottesdienst gesehen werden wollte, sei es heute ganz anders. Die Kirche habe nicht mehr denselben Stellenwert. Jochen Maier, Pfarrer der Martinskirche, beschreibt eine immer individualistischeren Gesellschaft, die sich auch auf das Lebensgefühl der Jugendlichen auswirkt. „Man spricht hier vom Traditionsabbruch. Man ist nicht mehr dabei, weil die Eltern das gemacht haben oder erwarten, sondern sucht seinen eigenen Weg.“
Die Tendenz zu einer individuellen Gestaltung des Glaubens, dessen Werten und Regeln spiegelt sich auch in einer österreichischen Jugendstudie wider. Deren Ergebnisse zeigen, dass viele Jugendliche und junge Erwachsene Religion als etwas Individuelles betrachten und sich ihre ganz eigene Glaubenswelt erschaffen.
„Jugendliche probieren verschiedene Dinge aus und finden heraus, was für sie funktioniert“, äußert Axel Rickelt. Für ihn sei das nichts Schlechtes – ganz im Gegenteil: „Genau das ist der Sinn von Jugend und Erwachsenwerden. Genau dafür möchten wir ihnen Räume bieten.“
Am wichtigsten ist das gemeinsame Zielbild. Wir müssen herausfinden, wo wir hinwollen.
Felix Vogl, Jugendarbeiter bei der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Kirchheim
„Die Gemeinden bieten so unfassbar viel an“, erzählt Rene Göckeler. Jugendkreise, Waldheim, Freizeiten und Jugendgottesdienste sind nur ein Teil des Programms. Bei den jungen Menschen aus Kirchheim und den umliegenden Ortschaften seien die Angebote weiterhin äußerst beliebt, erzählt Axel Rickelt. „Die Mitglieds- und Konfirmationszahlen sind zwar deutlich gesunken, doch unsere Angebote sind nicht schlechter besucht als vor zehn Jahren.“
„Wir sind sehr fokussiert auf die Jugend“, stimmt Felix Vogl zu. Die wirkliche Herausforderung sei jedoch, die Leute auch nach der Jugendzeit noch abzuholen. „Wer sagt denn, dass die Kids, die jetzt dabei sind, in zehn Jahren noch in den Gottesdienst gehen? Die Kirche muss sich fragen, was sie darüber hinaus noch bietet.“
In der heutigen Gesellschaft brechen ehemalige Selbstverständlichkeiten, wie die Kirchenmitgliedschaft und das Vertrauen in die Institution Kirche weg, bemerkt Sebastian Bugs. Er glaubt, dass die Jugendarbeit davon aber sogar profitieren kann: „Selbstverständlichkeit macht nachlässig und gleichgültig gegenüber den Bedürfnissen von Jugendlichen“, bedauert er. „Dass wir uns manche Fragen neu stellen müssen, tut der Qualität unserer Angebote sehr, sehr gut.“
Mehr als nur Gottesdienst
Jugendarbeiterin Saskia Frey befürchtet, dass der christliche Glaube für viele junge Menschen mittlerweile einen altmodischen Beigeschmack habe: „Ich schätze, viele denken bei Glaube automatisch daran, sonntags früh aufzustehen, in die Kirche zu gehen, alte Lieder zu singen und eine komische Predigt anzuhören.“ Das sei in ihren Augen jedoch ein Trugschluss. Kirche, betont sie, sei so viel mehr als nur der Gottesdienst.
Ob der traditionelle Sonntagsgottesdienst weiterhin überhaupt tragfähig ist, steht für Jugendreferent Christian Stierle noch in den Sternen. Er will nicht ausschließen, dass in der Zukunft womöglich ein neues Format erdacht werden muss. Auch die Jugendarbeit beschäftige sich mit der Frage nach der eigenen Identität, so Stierle. „Was macht uns als Kirche für Jugendliche interessant? Wo ist unser Platz?“
„Am wichtigsten ist das gemeinsame Zielbild. Wir müssen herausfinden, wo wir hinwollen“, schließt sich Felix Vogl an, und Axel Rickelt ergänzt: „Im Glauben zu stehen, heißt, zu vertrauen und mich zu einer Tradition gehörig zu fühlen. Das kann aber durchaus auch heißen, sie zu verändern.“