Nah und fern zugleich“: Unter diesem Motto gab Musikwissenschaftlerin Susanne Eckstein einen fundierten Einblick in das Musikleben des Oberamts Kirchheim im 19. Jahrhundert. So nah dieses Milieu in räumlicher Hinsicht ist, so fern ist es auch. Denn das Interesse der Musikgeschichte richtet sich vornehmlich auf den Kanon großer Komponisten. Dass mit dem Bissinger Flügelhornheft ein Dachbodenfund den Ausgangspunkt von Ecksteins Forschung bildet, verdeutlicht die prekäre Quellenlage ländlichen Musiklebens. Das Stimmheft enthält sowohl Kirchenlieder als auch patriotisches Repertoire. Der Kirchheimer Kammerchor und Bläserensembles der Stadtkapelle Kirchheim brachten diesen Fund anlässlich der Konzertlesung in St. Ulrich zum Klingen. Unter Leitung von Bezirkskantor Ralf Sach und Stadtmusikdirektor Marc Lange waren das geistliche Lied „Lobe den Herrn, o meine Seele“ und die militärische, eigens rekonstruierte „Jägers Tagwache“ zu hören.
Im Zuge ihrer Arbeit über die Geschichte der Kirchenbläser in Bissingen und Weilheim machte Eckstein die überraschende Entdeckung, dass noch um 1800 auf Zinken geblasen wurde. Das schwer zu beherrschende Instrument verortet man üblicherweise in die Renaissance. Eine von der Stadtkapelle vorgetragene Sonata knüpfte an diese Tradition der „Zinkenisten“ an.
Ein tausenfacher Unfug
Im Jahr 1824 erging in Württemberg eine amtliche Verordnung, die das vierstimmige Singen im Gottesdienst zur Pflicht erhob – und zwar für die gesamte Gemeinde. In einem Milieu, in dem Schulkinder mit den Grundlagen des Spracherwerbs zu kämpfen hatten und der Gemeindegesang von zeitgenössischen Quellen als gemeines Schreien beschrieben wird, war das ein höchst idealistisches Unterfangen. Kein Wunder, dass Kritiker diese Überforderung als „tausendfachen Unfug“ brandmarkten. Mit Dekan Jonathan Ferdinand Bahnmaier hatte das Oberamt Kirchheim einen fachkundigen Impulsgeber des mehrstimmigen Singens vor Ort. Der vormalige Rektor der Universität Tübingen zählt zu den Köpfen der württembergischen Singreform und konnte wichtige Grundlagen für die zahlreichen weltlichen Chorgründungen schaffen.
Die ins ländliche Schulwesen eingebundenen Pfarrer und Lehrer würdigte Eckstein als eminente Träger des Musiklebens. Dem „musikalischen Pfarrer“ Eduard Mörike stellte sie den Bissinger Dorfschulmeister Leonhard Sigel zur Seite. In dessen Lebenslauf spiegelt sich das große kulturelle Engagement der Volksschullehrer. Neben ihrer Hauptaufgabe waren sie als Kirchenmusiker und Chorleiter, teils auch als Komponisten tätig.
Als Katastrophe für alle Tanz- und Unterhaltungsmusiker erwies sich die „Einheitskirchweih“ des Jahres 1852. Fortan hatten die Kirchweihfeiern landesweit am selben Tag stattzufinden. Ihrer Einkommensquelle beraubt, verließen Musiker das Oberamt. Einige wanderten gar aus. So wie der Weilheimer Lorenz Schaich, der in den USA eine erfolgreiche Musikkarriere machte.
Die politisch unruhige Zeit um 1850 ging mit einer veränderten Ästhetik der Blasmusik einher: Janitscharenmusik kam in Mode. Eine von zivilen Kapellen gepflegte Variante der Militärmusik, die mit „türkischem“ Schlagwerk, Säbelrasseln und Kanonendonner beschwörte – wie im Radetzky-Marsch eindrücklich zu hören war. Wenn auch den Militärkapellen im Rahmen patriotisch geprägter Festkultur neue Aufgaben als kommerzielle Kulturorchester zufielen, so betont Eckstein doch die generelle Unterordnung weltlicher Instrumentalmusik unter den Kirchengesang. Das entsprach der pietistischen Weltsicht, die die Unterhaltungsmusik dem verderblichen „Weltsinn“ zuschlage, während der Kirchengesang den schmalen Weg zum Himmel öffne.
Der mit Kammerchor und Stadtkapelle gemeinsam gesungene Choral „Geh aus mein Herz und suche Freud“ bot dem Publikum Gelegenheit, sich aktiv mit einer historischen Musiktradition zu verbinden und setzte den Schlusspunkt der Konzertlesung.