Auch wenn es erst lange nach der Dämmerung den ersten Schoppen gibt, hat sich der Name „Dämmerschoppen“ für den Kirchheimer Neujahrsempfang längst etabliert - wie auch die Veranstaltung selbst. Viele Kirchheimer waren der Einladung der Oberbürgermeisterin gefolgt, sodass Angelika Matt-Heidecker - entgegen ihrer Befürchtungen - am Heimspieltag der Basketball-Ritter nicht alleine in der Stadthalle stand.
In ihrer Rede verband Angelika Matt-Heidecker die Lage in der Welt mit der Kirchheimer Kommunalpolitik: Weltweit stehe 900 Millionen Menschen keine Toilette zur Verfügung, „während wir mit einem Knopfdruck und einem Wasserschwall alles umgehend entsorgen“. Letzteres hat auch direkt mit Kirchheim und Umgebung zu tun: In wenigen Wochen starte die vierte Reinigungsstufe des Gruppenklärwerks, mit der auch Arzneimittel, Röntgenkontrastmittel und Hormone dem Abwasser entzogen werden.
An gesellschaftlichen Veränderungen zählte Angelika Matt-Heidecker außer der Allgegenwart der Mobiltelefone „das allmähliche Absterben herkömmlicher Strukturen“ auf, was bis hin zum Misstrauen gegenüber vielen Institutionen reiche, die bislang als die selbstverständlichen Tragpfeiler der Gesellschaft galten: „Nicht wenige sehen die Einflüsse von außen, das Fremde, als Gründe für die Veränderungen, und gleichzeitig ist vielen Menschen das Einlassen auf Veränderungen zu viel.“
2018 stünden in Kirchheim dieselben Themen an wie im abgelaufenen Jahr. Dazu gehört in erster Linie der Bau von Wohnungen, auch für die Anschlussunterbringung von Flüchtlingen. Zu weiteren Themen sagte die Oberbürgermeisterin: „Wir werden neue Gewerbeflächen bereitstellen, den Brandschutzanforderungen in unseren Schulen nachkommen und das Freibad zukunftsgerecht sanieren.“ Allerdings sei diese Sanierung nicht fristgerecht möglich: „Für eine verzögerte Öffnung bitte ich schon heute um Verständnis. Für die umfangreiche Sanierung ist der Winter nicht lang genug.“
Außer kommunalpolitischen Aufgaben warten 2018 aber auch eine Reihe von Jubiläen auf die Kirchheimer. Die Erinnerung an 400 Jahre Prager Fenstersturz, und damit 400 Jahre Beginn des Dreißigjährigen Kriegs, verband Angelika Matt-Heidecker einerseits „mit dem Plündern, Rauben und Morden des heutigen IS-Terrors“ und andererseits mit der indirekten Aufforderung, wieder einmal Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ zur Hand zu nehmen.
Auch der zweihundertste Geburtstag von Karl Marx hat auf den ersten Blick nichts mit Kirchheim zu tun. Auf den zweiten Blick aber sehr wohl: In Marx‘ Geburtsstadt Trier ist eine Ausstellung geplant, die auf besondere Exponate aus Kirchheim zur Revolution von 1848 angewiesen ist: „Kampfsensen mit schwarz-rot-goldenen Fransen; dazu die Freiheitsfahne - 1848 gestickt in Kirchheimer Häusern von Kirchheimer Frauen.“
50 Jahre Club Bastion
Eine ähnlich revolutionäre Zeit gab es 120 Jahre später: den Aufbruch des Jahres 1968. In Kirchheim gründete sich der Club Bastion, der nun in seinem Jubiläumsjahr auch für die Begleitmusik beim Dämmerschoppen sorgte. Die Bastionsband spielte - teils unterstützt durch Andreas Kenner an der Blues Harp - Stücke, bei denen man sich heute wundert, dass sie einstmals die Jugendlichen elektrisieren und ihre Eltern entsetzen konnten. Auch der Club Bastion entsetzte 1968 viele Kirchheimer, nicht nur durch Otto Mühls Exkremental-Auftritt. Angelika Matt-Heidecker erwähnte zudem ein Flugblatt, auf dem der neue Club in Kirchheim mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in der damaligen Tschechoslowakei verglichen wurde.
Das alles ist lange her, genauso lange wie der Beginn der Städtepartnerschaft mit Rambouillet, die 2018 groß gefeiert wird. Hinzu kommt die Bekräftigung der jüngsten Partnerschaft mit Bački Petrovac, dem früheren Bulkes. Einschließlich Kalocsa waren es denn auch fünf große Flaggen, die den Hintergrund der Stadthallenbühne zierten: Europa, Deutschland, Frankreich, Ungarn und Serbien.
Mindestens bis zum verlängerten Rambouillet-Feier-Wochenende im Mai sollte auch Angelika Matt-Heideckers traditioneller Neujahrsgruß anhalten, der mit dem wunderbar altmodischen Segensspruch endete: „I wünsch dr Schnitzbrot bis en d‘ Heiad.“