Kirchheim bereitet sich auf die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine vor. Das ist aber alles andere als einfach, weil es sich um eine Rechnung mit vielen Unbekannten handelt. Anhand der bestehenden Verteilungsschlüssel
rechnete Oberbürgermeister Pascal Bader im Gemeinderat vor: „Wenn Deutschland eine halbe Million Flüchtlinge aus der Ukraine aufnimmt, bedeutet das, dass wir in Kirchheim für 275 von ihnen sorgen müssen.“ Bei einer ganzen Million verdoppelt sich die Zahl entsprechend. Dann sind es 550 für die Stadt Kirchheim.
60 Flüchtlinge sind registriert
Bislang seien bereits 60 registrierte Ukraine-Flüchtlinge in der Stadt, „insbesondere Frauen mit Kindern“. Aber auch in diesem Fall sind viele Fragen offen: „Ich gehe davon aus, dass noch viel mehr Menschen aus der Ukraine hier sind. Die sind dann aber vorerst bei Familien und Freunden untergekommen.“ Früher oder später sollten sich alle registrieren lassen, nicht nur im Interesse von Bund, Ländern und Kommunen, sondern auch im eigenen Interesse: „Voraussetzung für Sozialleistungen ist die Registrierung.“ Bei dieser Registrierung hapert es aber – zunächst einmal von behördlicher Seite.
Pascal Bader drückt sich verhalten vorsichtig aus: „Die Erfassung funktioniert eher mäßig.“ Dann gibt er ein konkretes Beispiel: „Wir haben ein Gerät, das für die vollständige Registrierung unerlässlich ist. Das reicht für eine bis zwei Personen pro Stunde. Wenn dann gleich ein ganzer Bus ankommt, geht da gar nichts mehr. Dann können wir nur ein vereinfachtes Verfahren anbieten und die vollständige Registrierung erst im Nachgang anbieten.“
Was ganz wichtig ist, sind zunächst einmal Schlafstätten. Hier bietet sich das Bohnauhaus für eine vorläufige Unterbringung an. Maximal 48 Personen lassen sich dort unterbringen. „Deswegen prüfen wir jetzt auch, welche Sporthallen in Frage kommen könnten.“ 34 städtische Wohnungen seien derzeit für die Aufnahme von Flüchtlingen verfügbar. Online seien 85 Angebote eingegangen – von Kirchheimern, die Unterbringungsmöglichkeiten haben oder schaffen würden. In Kirchheim gebe es ein großes Netzwerk von haupt- und ehrenamtlich tätigen Organisationen, die Hilfe anbieten. Wenn die Unterbringung geklärt ist, stünden die nächsten Herausforderungen an: „Sprachkurse, medizinische Versorgung, Betreuung von Kindern.“
Auf die Frage von Linken-Stadtrat Heinrich Brinker, ob die Stadt Unterschiede mache zwischen Flüchtlingen aus der Ukraine und Flüchtlingen aus anderen Ländern wie Afghanistan oder Syrien, antwortete seine Ratskollegin Marianne Gmelin (SPD) für den Arbeitskreis Asyl: „Uns ist es ganz wichtig, dass es da keine Rangordnung gibt. Es kann nicht sein, dass ein Kind in der Charlottenstraße schon seit einem halben Jahr auf einen Kindergartenplatz wartet und dass ein Kind, das gerade erst aus der Ukraine ankommt, sofort einen Platz kriegt.“ Für schnelle Hilfe liege der Fokus jetzt sicher erst einmal auf der Ukraine. „Aber das darf nicht heißen, dass man andere vernachlässigt.“
„Organisatorisches Hauptaugenmerk auf der Ukraine“
Der Oberbürgermeister sieht das ganz ähnlich: „Mit Flüchtlingen aus anderen Ländern geht das seinen geregelten Gang. Das stellt uns nicht vor große organisatorische Herausforderungen. Anders verhält es sich mit der Flucht aus der Ukraine. Darauf müssen wir deswegen unser organisatorisches Hauptaugenmerk legen.“
Auf das Problem mit der Registrierung wollte CIK-Stadtrat Tobias Öhrlich noch einmal zu sprechen kommen, auch aus den Erfahrungen der Jahre 2015/16 heraus: „Für die Erfassung braucht es nicht nur eine funktionierende Technik, sondern auch geschultes Personal. Das muss sachgemäß erfolgen.“ 2015/16 habe das nicht richtig funktioniert: „Die einen waren damals dreifach erfasst – und die anderen gar nicht.“
Pascal Bader nannte noch einen anderen Punkt, der in diesem Zusammenhang bedenklich sein könnte, dass nämlich ganz andere Menschen versuchen, die aktuelle Notlage zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen: „Ukrainische Pässe werden derzeit auf dem Schwarzmarkt zu hohen Preisen gehandelt. Auch deshalb muss die Registrierung sorgfältig erfolgen.“
Der Krieg ist „aufgebaut auf einem Lügenkonstrukt“
Erklärung: Der Kirchheimer Gemeinderat solidarisiert sich mit der Ukraine und setzt sich für Frieden und Freiheit ein.
Kirchheim. Deutlich bezieht der Kirchheimer Gemeinderat Stellung zum Krieg in der Ukraine. Als „sichtbares Signal gegen Gewalt und Vernichtung und für Frieden und Freiheit“ hat er eine gemeinsame Erklärung verabschiedet. Wegen dieser Erklärung allein wird der Krieg sicher nicht vorzeitig beendet werden. Aber Oberbürgermeister Pascal Bader sagt vor Verlesung des Wortlauts im Gemeinderat: „Es geht darum, etwas klarzustellen – dass man gegen diesen Krieg Stellung bezieht, auch wenn man sich sehr ohnmächtig fühlt.“
Die Worte sich klar, und sie lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Wir sind sprachlos angesichts der Brutalität, mit der ein Volk angegriffen wird – ohne Rechtfertigung, aufgebaut auf einem Lügenkonstrukt.“ Dieser Punkt betrifft also die staatlich russische Propaganda, die Putins Angriffskrieg mit der Verteidigung der Rechte russischer Minderheiten in der östlichen Ukraine zu rechtfertigen versucht.
Ohne Grund angegriffen
Weiter heißt es: „Wir sind sprachlos, wie ein souveräner Staat ohne Grund angegriffen wird und dass statt internationalem Recht plötzlich das Recht des Stärkeren gilt.“ Die Weltordnung, die durch internationale Verträge gesichert ist und die in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg Frieden und Sicherheit garantiert hat, werde durch diesen Krieg missachtet und mit Füßen getreten.
Die Sprachlosigkeit lässt sich jedoch überwinden: „Wir sind sprachlos, aber nicht stumm. Wir erheben unsere Stimme gegen Gewalt und Vernichtung, für Frieden und Freiheit.“ Als Gemeinderat einer „weltoffenen Stadt“ stellt das Gremium fest: „Unabhängig von nationaler, kultureller und ethnischer Zugehörigkeit, aber auch unabhängig von Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung und Lebensstil treten wir für ein friedliches, tolerantes und gewaltfreies Miteinander ein.“
Die Erklärung benennt die aktuelle Lage in der Ukraine ebenso wie die Konsequenzen für Kirchheim: „Viele Menschen fliehen aus der Ukraine. Wir erleben eine große Hilfsbereitschaft, diese Menschen zu empfangen und aufzunehmen. Das möchten wir als Gemeinderat diesen Menschen auch für unsere Stadt zusichern: Wir sind nicht nur in Gedanken bei euch, sondern offenen Herzens bereit, euch zu helfen. Wir werden für euch da sein, wenn ihr unsere Hilfe braucht. Die Stadt Kirchheim will und wird Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen.“
Die Erklärung ist aber nicht einseitig auf die Ukraine ausgerichtet und damit gegen das russische Volk. Im Gegenteil: Lediglich die Politik Putins wird angeprangert. Wer sich in Russland gegen den Präsidenten auflehnt, ist ebenfalls im Blick des Kirchheimer Gemeinderats: „Unsere Gedanken sind auch bei den mutigen Demonstranten in Russland, die für ihre Meinung, für ihre Ablehnung des Krieges auf die Straßen gehen – mit allen Konsequenzen.“
Die Mitglieder des Kirchheimer Gemeinderats verstehen sich als demokratisches Gremium. Sie wollen demokratische Maßstäbe einhalten, aber auch einfordern. Deswegen endet die Erklärung mit einer Solidaritätskundgebung: „Wir versichern, dass wir solidarisch zu den Menschen in der Ukraine und all denjenigen stehen, die in dieser Welt für Frieden eintreten.“
Einstimmig wurde die Erklärung verabschiedet – bei einer Enthaltung. Andreas Volz