Ein Frühlingstag im Kirchheimer Bergwald. Rund 20 Waldkinder und vier Erzieher sitzen auf Baumstämmen und lassen sich ihr Vesperbrot schmecken. Picknick unter Bäumen. Was für viele etwas Besonderes ist, ist Alltag für die Kinder. Entsprechend hält es sie nicht lange auf ihren hölzernen Sitzen. Schon bald hat jedes von ihnen ein neues Plätzchen. Lea und Anton knien vor einem morschen Baumstamm und bearbeiten ihn mit Hämmern, um „Käse“ für ihren Kaufladen herauszuklopfen. Johanna pflückt Bärlauch, der als Salat über die Ladentheke gehen soll. Laurenz sitzt auf einem Baumstamm und webt auf einem selbst gebauten Webrahmen einen kleinen Teppich. Robert balanciert auf einem großen Baumstamm. Jonathan haut einen Nagel in ein Stück Holz. Auf die Frage, was er da macht, antwortet er erstaunt: „Das weiß ich doch jetzt noch nicht!“
Dieser Satz trifft den Nagel auf den Kopf, weil er die Geisteshaltung jener Mütter beschreibt, die vor 20 Jahren den Grundstein für dieses besondere Projekt gelegt haben. Ohne einen wirklichen Plan in der Tasche zu haben, wurde aus Treffen mit den Kindern auf einem Waldspielplatz die Idee geboren, einen Waldkindergarten zu gründen. „Das Spiel der Kinder im Wald hat uns einfach überzeugt“, erinnert sich Birgid Zientz, eine der Gründerinnen. „Außerdem waren die Kinder danach herrlich ausgeglichen und schliefen gut ein.“
Bei vielen Kirchheimern stießen die Mütter mit ihrem Plan jedoch auf taube Ohren. Wie suspekt manchen ein Waldkindergarten war, zeigte sich spätestens bei der Vereinsgründung, die in einem Lokal stattfand. „Ein anderer Gast hat seine Veranstaltung dort abgesagt, mit der Begründung, er wolle nichts mit diesen grünen Waldökos zu tun haben“, sagt Birgid Zientz. Städtische Gelder gab es zunächst keine für den Elternverein, mit der Begründung, dass in Kirchheim genügend Kindergartenplätze vorhanden seien. Landesfördermittel wurden erst am Jahresende ausgezahlt, obwohl der Kindergarten im Mai den Betrieb aufnahm. „Das hat uns echte Bauchschmerzen gemacht und viele schlaflose Nächte beschert“, erinnert sich Birgid Zientz. Ohne einen Kredit der Eltern und Erzieherinnen, die für halbes Gehalt arbeiteten, wäre das Projekt gescheitert, bevor es erst richtig begonnen hatte.
Ein Platz für den Bauwagen, der als Wetterschutz und Aufbewahrungsort für Bücher und Material diente, war immerhin schnell gefunden. Den Standort am Wasserturm auf dem Hohenreisach hätten sich die Eltern zwar nicht selbst ausgesucht, aber er war immerhin gut mit Bus und Auto zu erreichen. Der neue Kindergarten kam laut Birgid Zientz gut an: Während anfangs nur vier Kinder betreut wurden, waren es nach anderthalb Jahren schon 20 Kinder. Die Warteliste wuchs, der Wunsch nach einer zweiten Gruppe auch.
20 Jahre später hat sich manches nicht verändert. Der „Waldkindi“, wie sich der Verein selbst nennt, ist nach wie vor ein kleiner Kindergarten. 25 Kinder besuchen die Gruppe, die Warteliste ist immer noch lang. Eine zweite Gruppe ist nicht in Planung. Ganztagsbetreuung, wie sie aktuell stark nachgefragt wird, auch nicht. Im Wald gehe das nicht, sagen die Erzieher, vor allem im Winter nicht. Spätestens um 14 Uhr ist Schluss.
Gleich drei männliche Erzieher
Der Verein beschäftigt fünf Erzieher, von denen drei Männer sind - eine Besonderheit in einer Branche, die weiblich dominiert ist. Der Bauwagen steht immer noch an Ort und Stelle. Mittlerweile ist ein zweiter dazugekommen, davor ein kleiner überdachter Platz. Geld gibt es schon seit vielen Jahren: Seit 2003 ist der Waldkindergarten im Bedarfsplan der Stadt. Arbeit für die Eltern ist immer noch reichlich vorhanden, jeder muss im „Waldkindi“-Verein mit anpacken. Das fängt bei der Leitung und Personalplanung an und hört beim morgendlichen Tee kochen für alle Kinder und dem Putzen des Bauwagens noch lange nicht auf.
Eines hat sich in 20 Jahren stark verändert: Der Bewegungsradius von Kindern ist noch kleiner geworden, ihre Zeitpläne voller. Spielplätze sind in der Regel eingezäunt, spielende Kinder auf der Straße sind zumindest in der Stadt ein seltener Anblick geworden. In vielen Kindertagesstätten ist Zeit in der freien Natur nicht an der Tagesordnung. Freispiel muss immer öfter zugunsten von Frühförderung zurückstehen. Das ist im Waldkindergarten anders. Freispiel hat einen hohen Stellenwert. Und: „Die Kinder hier können ihren Bewegungsdrang ausleben. Sie können laut sein und toben“, sagt Tanja Breckel, die noch vor Kurzem Erster Vorstand und einige Jahre lang Erzieherin im Waldkindergarten war (mehr im Interview).
Viele Eltern zieht es zurück in den Wald, obwohl - oder vielleicht auch gerade weil - Waldkindergärten sich dem Zeitgeist widersetzen, indem sie keine Ganztagsbetreuung anbieten und die Kinder viel Zeit mit Freispiel verbringen. Das zeigen die vielen Waldkindergärten im Landkreis Esslingen. Neben Kirchheim gibt es in Weilheim, Deizisau, Hochdorf, Köngen, Neckartenzlingen, Baltmannsweiler und Aichwald Waldkindergärten. In Holzmaden ist eine solche Einrichtung in Planung.
Der „Waldkindi“-Verein feiert das Jubiläumsjahr 2018 mit Veranstaltungen. Das größte Event, der „Tag des offenen Waldes“, findet am Samstag, 6. Oktober, ab 10 Uhr am Wasserturm statt. Es gibt Verpflegung, Mitmach-Angebote für Kinder, Puppentheater, einen Parcours, Führungen und vieles mehr. Alle Wald- und „Waldkindi“-Interessierten sind willkommen.