Ihr Sohn ist einfach verzweifelt, erzählt Almut Winkler. Brille, Hörgeräte, Maske – das alles unter einen Hut zu kriegen, sei eh schon schwierig. Moritz Winkler lebt im „Quartier 107 °“, einer Wohngruppe der Lebenshilfe Kirchheim. Er arbeitet in der Werkstatt und trägt dort tagsüber Maske. „Und jetzt soll er die FFP2-Maske auch noch zu Hause tragen? In seiner eigenen WG? Sobald er aus dem Schlafzimmer heraustritt?“ Almut Winkler empfindet die neuen bundeseinheitlichen Regeln für alle Pflegeeinrichtungen als klare Diskriminierung der Menschen mit Behinderung.
Ab sofort gilt die FFP2-Maskenpflicht in allen Einrichtungen der Eingliederungshilfe für alle gemeinschaftlich genutzten Räume. Das bedeutet: Nur im eigenen Schlafzimmer dürfen Menschen mit Behinderung ohne FFP2-Maske sein. Fernsehgucken, ein Schwätzchen halten, Duschen gehen, zusammen Kochen mit Freunden – das ist alles nur noch mit Maske möglich. „Das verstehe ich nicht“, sagt Bianca Alagna. Sie lebt in einer WG in der Kirchheimer Saarstraße, im Obergeschoss. „Wir wohnen doch hier zusammen!“ Heilerziehungspflegerin Sandra Lang sitzt ihr in der Wohnküche schräg gegenüber, um den großen Tisch herum haben die anderen Mitbewohner Platz genommen. Sandra Lang schüttelt den Kopf. „Das wäre so, als müsste ich zu Hause in meiner Familie ab jetzt Maske tragen, absolut absurd.“
Tobias Braun, Geschäftsführer der Karl-Schubert-Gemeinschaft Filderstadt, hat einen Brandbrief an alle Bundestagsabgeordneten des Kreises geschrieben. Noch hat er keine Antwort bekommen. „Die Rechte der Menschen mit Behinderung werden missachtet, ganz eindeutig“, sagt er. „Ich fordere von der Bundespolitik, dass diese Maskenpflicht zurückgenommen wird. Menschen mit Behinderung, die in der Werkstatt arbeiten, tragen so bis zu 18 Stunden Maske am Tag.“ Elke Willi, Vorstandsvorsitzende der Lebenshilfe Esslingen, schließt sich an: „Gerade Menschen, die in der Kommunikation stark auf Emotionen angewiesen sind, schauen jetzt den ganzen Tag nur noch in Gesichter mit Masken. Sie werden so abgeschnitten von der Kommunikation und der Gesellschaft.“ Das alles werde den Menschen überhaupt nicht gerecht, sagt auch Thomas Fick, Geschäftsführer von „leben inklusiv“ in Nürtingen. „Ins Kino gehen darf ich ohne Maske und zu Hause im Wohnzimmer fernsehen nur mit FFP2-Maske?“ Natürlich müssten die Menschen mit Behinderung in den besonderen Wohnformen besonders geschützt werden – und zwar davor, dass Corona von außen in die Wohngruppe getragen werde, sagt Cornelia Klee, Geschäftsführerin der Lebenshilfe Kirchheim. Deshalb sei es richtig, dass die Mitarbeitenden Maske tragen und sich dreimal die Woche testen. „Eben damit innerhalb der Wohngruppen das Leben ganz normal ohne Masken möglich bleibt. Das ist schließlich das Zuhause, die zweite Familie. Dass der Gesetzgeber hier den privaten Raum so entwertet, ist hochgradig diskriminierend.“ Außerdem sei das jetzt verordnete Testen unter Aufsicht für alle Mitarbeitenden ein Misstrauensvotum gegenüber allen in der Pflege Beschäftigten.
Quarantäne der anderen Art
Oben in der WG im Dachgeschoss in der Saarstraße steht Benny Gehrlein in der Küche. Er ist Heilerziehungspfleger und findet die Maskenpflicht für sich selbst komplett angemessen. Doch die Maskenpflicht für die Menschen mit Behinderung empfindet er als eine Quarantäne der anderen Art: „Ich glaube, das führt dazu, dass die Menschen mehr in ihren Zimmern bleiben und allein sind.“ Unten im Erdgeschoss wird gerade gekocht und Rote Beete geschnippelt. Immer wieder zieht Mitarbeiter Markus Proß einer Bewohnerin die Maske hoch. Und immer wieder rutscht sie hinunter. „Ich finde es so traurig, dass viele Menschen hier jetzt erfahren, dass sie mit niemandem mehr so vertraut sind, dass sie ohne Maske sein dürfen, nicht mal in ihrem Zuhause. Das ist hier doch Heimat.“ Und wie erklärt er den Menschen, dass es ab jetzt beim Kochen eine Maskenpflicht gibt? „Ich kann immer nur sagen: Es ist so. Mehr kann ich nicht machen.“