Kirchheim
Versuch in Kirchheim: Wie weit kommt man mit dem Rollstuhl?

Mobilität Unterwegs mit Markus Schmidt in Kirchheim: Warum nicht nur fehlende Rampen Barrieren darstellen und was zur Teilhabe noch fehlt. Von Julia Nemetschek-Renz

Stufen überall: drei graue Stufen hoch in den neuen Burger-Laden neben dem Rathaus. Eine kleine hübsche aus Sandstein liegt vor dem Obst- und Gemüseladen gegenüber. Eine breite führt in den Dönerladen, eine schmale in den Frisör – die Stufe in den Bäcker ist dreieckig. Für Markus Schmidt bedeuten all diese Stufen in der Kirchheimer Altstadt das Gleiche: Hier kann ich nicht rein.

 

Leichtere Sprache oder Bilder vorn an den Bussen wären gut.
Markus Schmidt
wünscht sich mehr Barrierefreiheit
 

Seit über 20 Jahren lebt Markus Schmidt in Kirchheim, in einer eigenen Wohnung in der Nähe des Bahnhofs. Er arbeitet in der Werkstatt, hat viele Freunde und Bekannte und ist am liebsten jeden Tag mit seinem E-Rolli in der Stadt unterwegs. Im Jahr 2021 war er bei den Inklusions-Workshops der Stadt dabei, hat für die Lebenshilfe Kirchheim diskutiert zum Thema Barrierefreiheit und Mobilität und den Inklusionsplan für die Stadt mitentwickelt. Wie steht es um die Barrierefreiheit in Kirchheim? Wie weit kommen Menschen mit Behinderung im Rollstuhl?

Stufen und Bordsteine sind unüberwindbare Hindernisse

Die Stufen sind das eine Thema: Markus Schmidt steht vor dem Burger-Laden mit den drei Stufen, zuckt mit den Schultern und sagt: „Hier täte ich ja drinnen gern mal einen kleinen Burger essen, aber wie?“ Gegenüber im Gemüseladen gab‘s letzten Sommer so leckere Erdbeeren, erzählt er, die hat die Verkäuferin ihm dann auf die Straße rausgebracht. „Ja, das machen wir immer,“ sagt sie. Die älteren Damen mit den Gehwägelchen hake sie unter, um sie in den Laden zu führen. Markus Schmidt kann man nicht unterhaken, sein Rollstuhl ist viel zu schwer.

Und dann natürlich die Bordsteine – die langen Stufen quer durch die Stadt. Sie unterteilen Markus Schmidts Raum. Jeden Tag. Nur bei abgesenkten Bordsteinen kann er seinen Weg verlassen oder eine andere Richtung einschlagen. Und wenn jemand nur mal kurz auf dem Gehweg parkt, um schnell eine Brezel zu holen, heißt das: Warten oder zurückfahren. Kurz mal auf die Straße ausweichen geht nicht.

Die schnelle Abkürzung durch die Unterführung kann Markus Schmidt nicht nehmen – es gibt am Bahnhof keinen Aufzug. Deshalb fährt er zur Werkstatt jeden Tag einen Umweg. Foto: Julia Nemetschek-Renz

Die Tür zur Toilette geht schwer auf

Zurück geht’s an der Stadtbücherei vorbei. Daneben liegt eine gut ausgeschilderte Toilette für Menschen mit Behinderung. Die Tür zur Toilettenanlage ist groß und schwer. Markus Schmidt lehnt sich nach vorn, aus dem Rollstuhl, so weit es eben geht, streckt die Hand aus, stößt die Tür etwas auf, rangiert, stößt die Tür weiter auf. Bis er drin ist, hat er dreimal den Rückwärtsgang gebraucht und viel Geschick. Ein schmaler Gang führt zur Toilette für Menschen mit Behinderung. Markus Schmidt hat einen Schlüssel. Er fährt in die Toilette hinein, drehen kann er hier drinnen nicht mehr mit seinem E-Rolli. Und die Toilettentür schließen auch nicht. „Was will man machen,“ sagt Markus Schmidt.

Jetzt geht’s zur Bushaltestelle am Rossmarkt. Zurück zum Bahnhof will er. Markus Schmidt stellt sich an die Haltestelle und wartet. Hinter ihm hängen die Fahrpläne in einem silbernen Kasten am Haltestellenschild. Sie stehen für die größten Barrieren für viele Menschen mit Behinderung. Höher als jede Stufe, länger als der längste Bordstein. Die eine Barriere sind die echten Stufen, die andere ist die Sprache. Für alle Menschen, die gar nicht oder nur sehr wenig lesen können, ist so ein Fahrplan eine fast unüberwindbare Hürde.

Eine schwere Tür und wenig Platz zum Rangieren: Öffentliche Toiletten bergen Schwierigkeiten. Foto: Julia Nemetschek-Renz

Es ist Geduld gefragt

Markus Schmidt überwindet diese Barriere mit Geduld. Er stellt sich an die nächste Haltestelle und wartet. Fragt dann den Busfahrer, wohin er fährt und lässt sich entweder die Rampe ausklappen oder wartet weiter. Manchmal steht er zwei Stunden an der Haltestelle. Von Unterensingen nach Kirchheim ist er schon mal komplett mit dem E-Rolli gefahren – 10 Kilometer weit. Es war Sonntag, er hatte lang gewartet. Und was würde helfen? „Leichtere Sprache oder Bilder vorn an den Bussen wären gut,“ sagt er. Und Unterstützung hilft natürlich immer. Manchmal ruft er seine Mutter an oder einen Freund.

Ein Bus kommt und fährt zum Bahnhof. Markus Schmidt kennt den Busfahrer, sie rufen und lachen durch den ganzen Bus. Am Bahnhof zeigt Markus Schmidt noch schnell die Unterführung, sie wäre eine Abkürzung zur Werkstatt, jeden Morgen. „Hier ist aber kein Aufzug,“ sagt er. „Egal, ist so.“ Er ist einfach so gern unterwegs. Ein paar Stufen und schwierige Fahrpläne halten ihn nicht auf. Nimmt er halt den längeren Weg und ein bisschen Geduld mit.

 

Was die Stadt Kirchheim in Sachen Inklusion tut

Bundesweit hat etwa jeder zehnte Mensch eine Behinderung. 2021 hatten laut Statistischem Bundesamt 7,8 Millionen Menschen einen Schwerbehindertenausweis. Rund 1,4 Millionen Menschen sind in Deutschland auf einen Rollstuhl angewiesen, das entspricht 1,68 Prozent der Bevölkerung.

Um die Teilhabe der Menschen mit Behinderung im gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, hat die Stadt Kirchheim 2021 zu Inklusions-Workshops eingeladen. Vertreterinnen von Verbänden und Vereinen, Politik und Verwaltung und Menschen mit Behinderung selbst entwickelten den Inklusions- und Teilhabeplan. Für die einzelnen Handlungsfelder konnten Leitziele und Maßnahmen festgeschrieben werden. Zusätzlich hat die Stadtverwaltung einen Aktionsplan erstellt, mit konkreten Maßnahmen für die Jahre 2022 und 2023.

Was ist in Planung und was liegt auf Eis? „Am Bahnhof in Ötlingen und an der Stadthalle sind digitale Fahrgastansagen mit Vorlesefunktion eingerichtet worden, weitere sind in Planung. Außerdem haben wir 2022 begonnen, die Bushaltestellen barrierefrei umzubauen,“ so Karoline Brüstle, Mitarbeiterin für Inklusion in der Abteilung Soziales der Stadt. Es sei geplant alle Haltestellen in den nächsten Jahren barrierefrei umzubauen.

Im Sommer soll es außerdem eine gemeinsame Wege-Begehung der Lebenshilfe in der Kirchheimer Saarstraße zur Altstadt geben, zweimal im Jahr tage das Fachforum Inklusion, und der Web-Auftritt der Stadt sei mittlerweile barrierefrei. Hier hätte auch der Fokus gelegen, die ursprünglich geplante Stadt-App mit Tipps und Hinweisen zu barrierefreien Angeboten sei erstmal auf Eis, so Karoline Brüstle. Die Stadt verstehe sich als Brückenbauerin in Sachen Inklusion, ergänzt Brigitte Hartmann-Theel, Leiterin der Abteilung Soziales. „Wir wollen Ideen aufnehmen und alle mitnehmen. Es soll gemeinsames Tun werden.“ 

Weitere Informationen zum Inklusionsplan und dem Aktionsplan bietet die Website der Stadt
www.kirchheim-teck.de/barrierefrei