Die Kirchheimer waren vor hundert Jahren in Aufruhr, innerlich. Äußerlich war der Arbeiter- und Soldatenrat in der Teckstadt dafür verantwortlich, dass Ruhe und Ordnung beibehalten wurden. Das erkennen Vertreter aller unterschiedlichen Interessengruppen an, über deren Versammlungen der Teckbote damals berichtet: Am Montag, 18. November, werden gleich drei Versammlungen nacheinander abgehandelt.
Die Fortschrittliche Volkspartei, die sich in der Sonne traf, rechnet schonungslos mit dem Kaiser ab: Dessen Politik sei „eine wankende und schwankende gewesen, [...] die in der ganzen Welt Mißtrauen erweckt habe“. Kein heutiger Historiker würde grundlegend widersprechen. Im Gegensatz dazu stehe Württembergs König Wilhelm II.: In einer Republik Württemberg wäre er „der geeignetste und aussichtsreichste Anwärter auf den Präsidentenstuhl“. Mit knapper Mehrheit entscheidet sich die Partei für das Wahlrecht „für alle über 20 Jahre alten Staatsangehörigen beiderlei Geschlechts“. Uneins ist man sich in der Sonne dagegen, welche Befugnisse der Arbeiterrat haben solle.
Die „Oeffentliche Volksversammlung“, zu der der Arbeiter- und Soldatenrat in den Lohrmannssaal geladen hatte, gibt dagegen klare Antworten: Der Rat betrachtet es als seine erste Aufgabe, „für die Aufrechterhaltung der Ordnung und den Schutz des Privateigentums zu sorgen“. Vor allem aber sei „die Verpflegung der Bevölkerung zu überwachen“.
Weiter geht es mit der Mitteilung, „daß das Ersatzbataillon 248 auf dem schnellsten Wege aufgelöst werde“. 6 000 Mann seien vorübergehend in Kirchheim einzuquartieren. Die Arbeitgeber wiederum sollten „schon aus Gründen der Dankbarkeit die heimkehrenden Arbeiter freudig wieder aufnehmen“. Demokratisch im heutigen Sinn geht es bei dieser Volksversammlung durchaus zu, denn ein Zuhörer übt öffentlich „Kritik an der Zusammensetzung des Arbeiter- und Soldatenrats, [...] weil das Bürgertum in diesem Rat ungenügend vertreten sei“.
Anders sehen das die „geistigen Arbeiter“, die sich gleich nach der Volksversammlung im selben Saal treffen: Sie erkennen dankbar an, dass ihnen drei Stimmen im Arbeiterrat eingeräumt wurden, und fordern dazu auf, sich aktiv am politischen Leben zu beteiligen: „Jeder Teil unseres Volkes müsse sich als mitverantwortlich fühlen.“
Ähnlich formuliert es die Fortschrittliche Volkspartei, die am 21. November zu ihrer nächsten großen Versammlung auf Sonntag in den „Tyroler-Saal“ einlädt: „Eine neue Zeit zieht herauf. An Stelle der Gewalt soll das Recht, an Stelle der Unterdrückung die Freiheit, an Stelle des Herrenwillens der Volkswille treten. Darum ist es Pflicht jedes Staatsbürgers, [...] an dem Aufbau der neuen Staatsordnung tätig Anteil zu nehmen.“
Am selben Tag sind die Landwirte im Schwarzen Adler zusammengekommen. Auch sie wollen künftig drei Vertreter für den Arbeiterrat stellen. Vor allem aber werden sie beschworen, sich ganz der Lebensmittelversorgung zu widmen: Fehlendes Getreide muss nach wie vor aus Norddeutschland eingeführt werden. Bei den Kartoffeln gibt es leichte Überschüsse. Fleisch muss zwar weiterhin rationiert werden. Aber die Lage ist besser als bei der Milch.
Angesichts dieser Versorgungssituation zeigt sich, was es bedeutet, wenn der Teckbote am Samstag, 23. November 1918, von einem Bataillon mit 526 Mann berichtet, das „heute morgen seinen Einzug in unserer Stadt gehalten“ hat. Die Kirchheimer sollen die Soldaten willkommen heißen, auch wenn man ihnen „keine Freudenfeste bieten“ könne. Der Text mit der Überschrift „Sie kommen!“ beginnt mit einer Analyse des Kriegsendes, die durchaus der Faktenlage entspricht: „Das deutsche Heer konnte die Kraft nicht mehr aufbringen, dem sich immer wieder aus dem amerikanischen Jungbrunnen auffüllenden und über die Materialien der ganzen Welt verfügenden Feindesheer erfolgreich Widerstand zu leisten.“
Beginn der „Dolchstoßlegende“
Materialknappheit und der Kriegseintritt der USA waren tatsächlich wichtige Gründe dafür, dass das Kaiserreich den Krieg verloren geben musste. Trotzdem klingt bereits die spätere „Dolchstoßlegende“ an: „Unsere Heere sind unterlegen, ja, aber sie sind nicht besiegt.“ Im November 1918 war ein solcher Satz Balsam für die Leser, die ja nicht auf ganzer Linie besiegt sein wollten. Aber in der Folge führte diese Betrachtung nicht zur Einheit der Nation, sondern zur Destabilisierung - und zur Entfremdung von der Demokratie, die sich gerade erst entwickelte.