Kirchheim
Von der Apotheke an die Bar:Die Tropfen vom Orinoco wirken Wunder

Wirtschaftsgeschichte Rolf Walter widmet sich in einem „erzählenden Sachbuch“ dem Arzt, Apotheker und Unternehmensgründer Benjamin Siegert, der in Venezuela zu hohem Ansehen gelangt ist. Von Andreas Volz

Wenn Rolf Walter erzählt, geht es alles andere als trocken zu – erst recht nicht, wenn sein Thema „Angostura“ heißt: Angostura ist der frühere Name der Stadt Ciudad Bolívar, im Osten Venezuelas an einer Engstelle des Orinoco
 

Benjamin Siegert ist in Venezuela bis heute bekannt:
In Caracas hat er eine Gedenktafel im Pantheon.
Rolf Walter
über den Protagonisten seines Buchs

gelegen. Nach dieser Stadt hat der Arzt Johann Gottlieb Benjamin Siegert eine Erfindung benannt, wegen der sich seine Unterschrift bis heute in jeder gut bestückten Bar finden lässt. Di1824 hat Siegert den „Angostura Bitters“ als Arznei entwickelt, die vor allem gegen Magenbeschwerden helfen sollte.

Bis heute wird das Produkt nach dem geheimen Originalrezept hergestellt und weltweit vertrieben – allerdings schon längst nicht mehr von Venezuela aus: 1875, fünf Jahre nach dem Tod Benjamin Siegerts, haben seine Söhne den Betrieb auf die nahegelegene Insel Trinidad verlagert, die damals britisch war und die deswegen wesentlich bessere wirtschaftspolitische Voraussetzungen als Venezuela bot und nach wie vor bietet.

Wie kommt der Kirchheimer Rolf Walter überhaupt dazu, über ein so abseitiges Thema zu schreiben? In Jena hatte der emeritierte Professor den Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte inne. Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn er sich mit einem nahezu 200 Jahre alten, weltweit erfolgreichen Produkt beschäftigt, und noch dazu mit der Sozialgeschichte ausgewanderter Deutscher.

Venezuela ist sein Thema, seit er 1980 erstmals durch ein Stipendium dort hingelangt ist. 1983 gehörte er zu den Mitbegründern der Deutsch-Venezolanischen Gesellschaft. Aktiv hat er an deren regelmäßigen Publikationen mitgearbeitet, einer Zeitschrift namens „Encuentros“ (Begegnungen). Benjamin Siegert ist ihm deswegen schon lange bekannt.

Im Ruhestand hat er sich nun an ein anderes Genre gewagt: Über Siegert hat er unter dem Titel „Angostura“ ein „erzählendes Sachbuch“ geschrieben. Es basiert auf Fakten, die Rolf Walter seit 40 Jahren sammelt, unter anderem auf Originalbriefen, die zwischen Ciudad Bolívar und der schlesischen Heimat Benjamin Siegerts hin- und hergingen. Durchmischt hat er sein Buch mit Fiktion.

Für die zweite Auflage hat er umfangreiche Streichungen vorgenommen. Von der paradiesischen Natur Venezuelas hatte er sich für die Erstausgabe zu sehr hinreißen lassen, die intimen Eheanbahnungen seiner Protagonisten überdeutlich zu beschreiben. Benjamin Siegert war zwei Mal verheiratet, jeweils mit einheimischen Kreolinnen, denen er auch viele Kenntnisse über die Pflanzenwelt seiner Wahlheimat zu verdanken hat. Nicht zuletzt hat dieses Wissen zur Entwicklung des „Amargo de Angostura“ geführt.

Siegert kam 1796 in Schlesien zur Welt. Als junger Arzt kümmerte er sich 1815 in der Schlacht von Waterloo um zahlreiche Verwundete. Anschließend setzte er sein Studium fort. Seine europäische Heimat verließ er 1820, nachdem er Geld seines älteren Bruders veruntreut hatte. Er hatte sich bei Simón Bolívar für den Dienst in dessen südamerikanischer Befreiungsarmee verdingt und segelte in die Karibik. Auf demselben Schiff war Heinrich Friedrich Wilhelm Achatz von Bismarck unterwegs, ein Verwandter des späteren Reichskanzlers Otto von Bismarck. Achatz war ebenfalls in bolivarianischen Diensten, kam aber nur bis in die Karibik und kehrte von dort nach Europa zurück. An Kampfhandlungen in der Neuen Welt hat er nie teilgenommen.

Benjamin Siegert dagegen blieb die restlichen 50 Jahre seines Lebens in Angostura. Er war dort im militärischen wie im zivilen Hospital sowie in seiner eigenen Praxis als Arzt tätig. Man konsultierte ihn auch bei Zahnschmerzen oder zu veterinärischen Zwecken. Als Apotheker und Unternehmensgründer gelangte er ebenfalls zu einem ordentlichen Vermögen, sodass er seinen zahlreichen Kindern eine gute Ausbildung zukommen lassen konnte – in Europa.

„History Marketing“ – die Firmengeschichte in der Reklame

Die Aussöhnung mit dem älteren Bruder ist ihm zeitlebens nicht so recht gelungen. Aber mit den übrigen Geschwistern hielt er Briefkontakt, nachdem er etwa zehn Jahre nach der Auswanderung erstmals ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte. Das alles beschreibt Rolf Walter in seinem Buch, das noch einen weiteren Helden hat: Alexander von Humboldt, den es ebenfalls nach Angostura verschlagen hatte, 20 Jahre vor Benjamin Siegert. „Humboldt ist der bekannteste Deutsche in Südamerika“, berichtet Rolf Walter im Gespräch. Das Goethe-Institut in Caracas trägt deshalb den spanischen Namen „Asociación Cultural Humboldt“.

Das ist eines der Themen Rolf Walters: Werbung mit dem richtigen Namen. „History Marketing“ interessiert ihn auch am Angostura Bitters – Werbung mit einer 200 Jahre alten Geschichte. Das dazugehörige „Storytelling“ übernimmt er gleich selbst.

 

„Angostura Bitters“ als Erfolgsprodukt

Seeleute sorgten einst für die Vermehrung des Ruhms von Benjamin Siegert und seinem „Amargo de Angostura“. Sie schwärmten dermaßen von dem medizinischen Getränk, dass es schon bald in großen Mengen bestellt und weltweit vertrieben wurde.

Großer Beliebtheit erfreut sich der „Angostura Aromatic Bitters“ als Bestandteil von Cocktails oder auch zum Verfeinern von Speisen.

Produktpiraterie gab es schon frühzeitig. Die meisten Nachahmer des erfolgreichen Produkts haben Angosturarinde als wichtigen Bestandteil. Die Hersteller des Originals verweisen jedoch von Anfang an darauf, dass in ihrem Rezept keine Rinde des Angosturabaums vorkommt. Der Name beziehe sich lediglich auf den früheren Namen des ersten Produktionsstandorts.   vol