Alle müssten namentlich genannt werden, alle Musiker der Stadtkapelle Kirchheim, die am vergangenen Samstag in der Stadthalle einen furiosen Auftritt hingelegt hatten. Allen voran der Spiritus Rector Marc Lange, denn er fand nicht nur die richtigen Tempi, zauberte die Stimmung, fasste zusammen, spitzte zu, ordnete, und hatte zu Beginn seine Zuhörer so sicher im Griff, wie danach die Heerschar der Musiker auf der Bühne. So wie der Dirigent nach den Hauptstücken die Solisten aus dem Orchester aufrief zum Extrabeifall, so sollen sie auch hier, in Auswahl, genannt werden. Christian Rehberg, er schleuderte das berühmte Klarinettensolo am Anfang der Rhapsodie in Blue so in den Raum, dass man klatschen wollte, bevor die Kapelle einen Ton gespielt hatte. Wolfgang Novats gedämpfte Trompetentöne brachte die Zuhörer fast um den Verstand, ebenso wie das gestopfte Horn von Susanne Klais.
Teuflischer Engelsklang
Dass in der neuen Welt die Rollenverteilung zwischen Gut und Böse genauso treuherzig gehandhabt wird, wie in der alten, kam im Stück „Angels in the Architecture“ überdeutlich zum Ausdruck. Das Göttlich-Gute sollte in Melodien geistlicher Lieder aufscheinen und in einem Sopran-Solo, begleitet von geschwungenen Klangschläuchen, „Whirless“ genannt. Diese sehen engelsgut aus, und die Sopranistin Serena Hart hatte auch engelschöne Soprantöne mitgebracht, wenngleich in den höchsten Lagen - wie gemein vom Komponisten - auch klitzekleine Teufelchen mitmischten, gut versteckt hinter Hintertürchen. So blieb das Motto des Abends „Alte Welt & neue Welt“ ziemlich nebulös, denn erstens passen die Begriffe ganz und gar nicht mehr in die heutige Zeit und zweitens schimmert verräterisch der reißerische Titel von Antonin Dvořáks „Sinfonie aus der neuen Welt“ durch, die zwar in den USA entstanden, aber durch und durch europäisch ist.
Und dieser Tradition huldigten auch die Eröffnungsstücke der zwei Programmteile. Zuerst der Huldigungsmarsch von Richard Wagner, komponiert für das Festspielhaus in Bayreuth. Die Musik ist nicht zu Unrecht fast vergessen. Was würde Wagners Musik widerfahren, ohne das Amalgam der Streicher? Fanfarengeschmetter versackten in der durch die vielen Besucher stark gedämpften Stadthalle. Die Musiker mussten in der dumpf gewordenen Akustik erst warmlaufen. Kaum ist das geschafft, geht das Stück schon zu Ende. Ähnlich ging es mit der Ouvertüre für Harmoniemusik von Felix Mendelssohn Bartholdy zu Beginn des zweiten Teils. Die langsame Einleitung ist eine Strafexpedition für die tiefen Hörner. Der Komponist rechnete mit abgebrühten Berufsmusikern. Im schnellen Teil atmete durchaus das Feuer des jugendlichen Mendelssohn. Wenngleich das Arrangement von John Boyd für modernes Blasorchester dem Werk keine Gewalt antut: Den Musikern wird es nicht leichter, die Anmut des frühen 19. Jahrhunderts zur Entfaltung zu bringen. Doch Marc Lange, hier sinnvollerweise ohne Taktstock dirigierend, machte das Unmögliche möglich. Mendelssohns Charme erreichte die Ohren.
Requiem für den Holocaust
In denkbar größtem Gegensatz dazu stand das folgende Requiem von David Maslanka. Der US-amerikanische Komponist widmet es ausdrücklich dem Holocaust: Ein verstörend penetranter Einsatz des Klaviers, mit einem unerträglich oft wiederholten Zitat aus Beethovens Mondscheinsonate, zuverlässig gespielt von Sara Hauschild. Als ob diese Konfrontation nicht schon herzzerreißend genug gewesen wäre, brach urplötzlich ein Höllenspektakel los, die hemmungslose Entfesselung des Bösen, gefolgt von einem unendlich traurigen Abgesang. Solche abgrundtiefe Betroffenheit erlebt man selten im Konzertsaal.
Nach betroffener Stille einsetzender Beifall erlöste schließlich aus der Schockstarre und ermöglichte, das Concerto musikalisch zu beenden. Gershwins „Ein Amerikaner in Paris“ verarbeitet musikalisch den Aufenthalt des Komponisten in der französischen Hauptstadt. Als Auftragswerk für die New Yorker Philharmoniker geschrieben, rechnet es mit der üblichen Sinfonieorchester-Besetzung. Weil der Pianist Gershwin nach Ansicht der amerikanischen Vermarkter nicht gut genug instrumentieren konnte, griff sein Lektor so tief in Gestalt und Struktur des Werkes ein, dass er heute urheberrechtlich als Mitautor geführt wird. In der Fassung für sinfonisches Blasorchester schließlich ist viel amerikanischer Mainstream. Das erklärt auch die gemischten Gefühle vor allem nach der bedrückenden Authentizität des vorangegangenen Requiems. Doch schließlich siegte die Originalität des aus der Ukraine stammenden Gershwin. Wie kaum ein anderer hat er die ureigenste amerikanische Musik auf den Punkt gebracht. Nach frenetischem Jubel beruhigte die Stadtkapelle die Gemüter mit „Amazing Grace“ im Arrangement von Frank Tichely.
Dupree kam, spielte, siegte
Damit klang der Abend besinnlich aus und ließ kaum etwas ahnen vom Kraftakt der Musiker auf ihrem Weg durch ein ehrgeiziges Programm, dessen Höhepunkt zum Schluss erwähnt werden muss: Die „Rhapsody in Blue“ von Georg Gershwin. Marc Lange war es gelungen, den „upraising star“ Frank Dupree, für den Klavierpart zu gewinnen. Dieser hatte seinen musikalischen Weg als Schlagzeuger in einer Blaskapelle begonnen und war, kurz bevor er zu einer internationalen Karriere abhebt, für das Kirchheimer Konzert verfügbar gewesen. Umwerfend, wie sich Dupree und Lange, Klavier und Bläser, die Bälle zuspielten. Die Konfrontation von Solist und Orchester war hier in vollkommener Symbiose aufgehoben. Der tobende Saal erklatschte sich zwei Zugaben, darunter ein Klavierstück von Gershwin, kongenial vorgetragen. Dieses Konzert geht nicht nur in die Annalen der Stadtkapelle ein, sondern wird als Referenz im Kirchheimer Kulturleben unangefochten bleiben.