Bei den Kommunalwahlen vor zehn Jahren durften zum ersten Mal auch 16-Jährige in Baden-Württemberg ihr Kreuz auf den Stimmzettel machen. Jetzt folgt der nächste Schritt: Beim Urnengang am 9. Juni stehen erstmals in der Geschichte dieses Landes die Namen Jugendlicher auf den Wahlzetteln. Beispiel Kreistag: 37 der insgesamt 746 Bewerberinnen und Bewerber, die im Kreis Esslingen auf Stimmenfang gehen, waren zur Jahrtausendwende noch nicht geboren. Rund ein Fünftel davon hat einen Migrationshintergrund. Jung und keinen Bock auf Politik? Vier Gegenbeispiele:
Glaubt man Parteigenossen, dann gehört ihm die Zukunft. Giancarlo Crescente ist Vorsitzender der CDU Teck und auf Listenplatz eins seiner Partei bei der Wahl zum Kirchheimer Gemeinderat. Warum der 18-Jährige aus Lindorf auch für den Kreistag kandidiert, ist schnell erklärt: „Es gibt Themen, die muss man über die Stadt hinaus denken“, sagt er. Welche das sind, überrascht aus dem Mund eines 18-Jährigen dann allerdings doch: Wirtschaftsförderung, bessere Infrastruktur und bessere Rahmenbedingungen für Unternehmen. Dass in dem Punkt manches in die falsche Richtung läuft, wie er sagt, erlebt Crescente täglich im elterlichen Handwerksbetrieb. Er wünscht sich Perspektiven. „Ich möchte schließlich hier in der Region irgendwann einen vernünftigen und zukunftssicheren Arbeitsplatz haben.“ Ob der dann in der Wirtschaft sein wird, ist allerdings fraglich. Im September beginnt er sein Studium für den gehobenen Verwaltungsdienst. Keine schlechte Basis für einen, der in die Kommunalpolitik strebt. Dass viele seiner Altersgenossen gar nicht wissen, dass es einen Kreistag gibt, hält er für dramatisch. Dass es an Bewusstsein für Veränderungen fehlt, hingegen für ein Märchen. „Viele in meinem Alter haben Verbesserungsideen“, stellt er fest. Das Problem: „Sie erkennen darin keine Politik.“ Und noch eins überrascht: Dass man sich mit 16 für ein politisches Amt bewerben kann, hält Crescente für keine gute Idee. Was die Geschäftsfähigkeit betrifft, seien zu viele Fragen ungeklärt.
Kommunalpolitik mit der Muttermilch aufgesogen – zumindest bei Lara Brinks ist das mehr als eine müde Metapher. Ihre Mutter ist Vorsitzende des Kirchheimer Stadtverbands der SPD, kommunalpolitische Themen gehören seit jeher daheim in Weilheim zum Alltag. Auch die 19-Jährige tickt daher anders als die Mehrheit ihres Jahrgangs. Rein ins Abenteuer nach gerade überstandenem Abi-Stress bedeutet für sie: bereit sein, um Verantwortung zu übernehmen. Wenn’s gut läuft in zwei politischen Ämtern. Neben dem Kreistag kandidiert auch sie für den Gemeinderat an ihrem Wohnort. Wenn ihr mit Bildung ein sozialdemokratisches Urthema am Herzen liegt, dann sind nicht nur tradierte Parteipositionen gemeint, sondern auch das, was sie als Schülerin hautnah erlebt: überteuertes Mensa-Essen und digitale Lücken. Weshalb gerade Kreispolitik sich im Bewusstsein ihrer Generation so schwertut? Für sie unverständlich. „Ich finde, der Kreistag hat superspannende Themen“, sagt Lara Brinks. „Wenn man wie ich in Weilheim wohnt, dann weiß man, wie wichtig es wäre, dass ÖPNV reibungslos funktioniert.“
Der Ausbau des Nahverkehrs ist auch für Carla Reichardt ein Thema, das beschäftigt. Seit zweieinhalb Jahren bereits ist sie bei den Grünen in Filderstadt aktiv – und das mit gerade mal 17 Jahren. Nach einem Schülerpraktikum bei Landtagspräsidentin Muhterem Aras ist ihr eines klar geworden: Wer etwas bewegen will, muss sich politisch engagieren. Mehr Rechte und Schutz für Frauen und natürlich Klimapolitik – was sonst, wenn man jung ist und vor einer ungewissen Zukunft steht? Das sind die Themen, die sie am meisten bewegen. Bei der Wahl zum Kreistag steht sie im Wahlkreis 2 in Filderstadt – einem der größten im Kreis – nur auf Listenplatz sechs unter zehn Mitbewerbern. Größer sind ihre Chancen, in den Filderstädter Gemeinderat einzuziehen, für den sie ebenfalls kandidiert. Dass grüne Standpunkte mitunter als Zumutung empfunden werden, weiß sie. Als Auszubildende zur Kauffrau für Büromanagement, sagt sie, habe sie keinen einseitigen Blick auf die Dinge. Standpunkte entschlossen zu verteidigen, sei dennoch wichtiger denn je. Was ihr angesichts der wachsenden Gewalt gegen demokratisch gewählte Vertreter durch den Kopf geht? „Das macht schon nachdenklich“, sagt die 17-Jährige. „Sich einfach wegducken, dafür ist jetzt allerdings der falsche Zeitpunkt.“
Paul Geipel (17) ist zwei Monate nach seiner grünen Mitbewerberin geboren und damit der jüngste Kandidat, der unter 746 Namen auf der Vorschlagsliste für die Kreistagswahl steht – in diesem Fall unter dem programmatischen Dach der FDP. Auch er bewirbt sich um einen Sitz im Gemeinderat seiner Heimatstadt Leinfelden-Echterdingen, weil man vor Ort, wie er sagt, am meisten bewegen kann. Für den Schüler am Echterdinger Philipp-Matthäus-Hahn-Gymnasium ist die Politik völliges Neuland. Die kontrovers geführte Diskussion über die Verlängerung der Stadtbahnlinie auf den Fildern hat zum ersten Mal sein Interesse für ein kommunalpolitisches Thema geweckt. Den Weg in die FDP fand er eher zufällig über Bekannte. Was ihm an der Partei gefällt? „Sie sind fortschrittlich und sie setzen sich für Digitalisierung und den Ausbau von Infrastruktur ein“, sagt er. Die Herabsetzung des Wahlalters sieht Paul Geipel als große Chance, von der er sich wünschen würde, dass sie zahlreicher genutzt wird als bisher. „Leute in meinem Alter haben ansonsten wenig Entscheidungsrecht.“ Die eigenen Chancen? „Aufgrund des Listenplatzes wohl eher gering“, meint Geipel. „Das ist ja nicht die letzte Wahl. Ich versuch’s auf jeden Fall wieder.“