Eine Frau hat einen Job in der Industrie und kommt finanziell gut zurecht. Da erleidet ihr Mann einen Schlaganfall, die Frau muss ihn zu Hause pflegen und hat dadurch deutlich weniger Gehalt. Sie bekommt vom Jobcenter eine Aufstockung, gilt aber in der Statistik als Bürgergeldempfängerin. Von diesen Fällen gebe es viele, sagt Tanja Herbrik, Geschäftsführerin des Kreisdiakonieverbands Esslingen. Auch von einer dreiköpfigen Familie aus Esslingen im SGB II-Bezug kann sie berichten.
Es gibt sie nicht, diese Menge an Menschen, die sich komplett verweigert.
Tanja Herbrik über die Hoffnung, Kosten beim Bürgergeld zu senken, wenn man Sanktionen verschärft.
Als der Vater stirbt, bedeutet das eine zusätzliche finanzielle Herausforderung für die Familie. Denn als Bedarfsgemeinschaft von nur zwei Personen wird für das Wohngeld nun eine geringere Fläche als bisher angerechnet. Das bedeutet, dass sie sich eine kleinere Wohnung suchen muss oder die Differenz zwischen tatsächlicher Miete und Wohngeld aus dem ihr zustehenden Regelsatz für sich und ihre Tochter bestreiten muss. Sie entscheidet sich für die Differenz in Höhe von 80 Euro monatlich.
Doch es sind nicht diese Schicksale, die den öffentlichen Diskurs beherrschen. Die Bundesregierung plant schärfere Sanktionen für Bürgergeld-Empfänger, die Arbeitsangebote oder Maßnahmen ablehnen oder Schwarzarbeit betreiben. So sagt Carsten Linnemann von der CDU der Tagesschau: „Jeder, der arbeiten kann und Sozialleistungen bezieht, muss nach spätestens sechs Monaten einen Job annehmen, ansonsten gemeinnützig arbeiten.“ Zumindest für den Landkreis Esslingen kann Tanja Herbrik aber von einer verschwindend geringen Zahl dieser Fälle sprechen: „Ich weiß gar nicht, woher Herr Linnemann die Zahlen hat. Ich nehme das nicht wahr.“ Tatsächlich seien in Esslingen im November 2024 in 48 Fällen Leistungsminderungen vorgenommen worden: „Das sind 0,3 Prozent.“

Überhaupt sehe das bestehende System bereits Sanktionen mit Kürzungen von bis zu 30 Prozent des Regelbedarfs vor. „Das kann schon passieren, wenn man einen Termin im Jobcenter versäumt, oder fünf Arbeitsangebote verweigert“, sagt sie. Je nach Fall könne die Kürzung bis zu vier Monate gelten. Aber manchmal gehen auch Briefe zu Beratungsterminen verloren. „Das müssen die Betroffenen dann aber beweisen“, erklärt Tanja Herbrik. Härtere Sanktionen würden nichts bringen und ohnehin von Gerichten einkassiert, etwa die Senkung auf null.
„Es lohnt sich, zu arbeiten“, betont die Geschäftsführerin der Diakonie im Landkreis. „Dazu gibt es Untersuchungen von zwei Instituten, dass man im Durchschnitt als Arbeitnehmer mit Mindestlohn 532 Euro mehr zur Verfügung hat als ein Bürgergeldbezieher.“
Dass es sich Menschen im Bürgergeld bequem einrichten, decke sich nicht mit ihrer Erfahrung. „Die meisten, die ich kenne, leben nicht gut und gerne vom Bürgergeld.“ Wer dauerhaft nicht arbeite, habe meistens psychische Probleme und sei gar nicht arbeitsfähig. Lisa Pranter vom Esslinger Jobcafé ergänzt: „Dass man ständig Unterlagen bekommt, macht einen auch fertig. Viele sagen mir, dass sie sich wie befreit fühlen, wenn sie aus dem Bürgergeld-Bezug herauskommen.“
Ungleichheit unter Geflüchteten
Ein Problem sei auch durch die Ungleichbehandlung geflüchteter Menschen entstanden. „Sie kommen sofort in den Bürgergeldbezug“, sagt Tanja Herbrik. Unter den 5952 Geflüchteten im SGB II Bezug im September 2024 waren 3505 Personen aus der Ukraine, weniger als die Hälfte aus Syrien. „Man muss aber dazu wissen, dass nicht jede und jeder, der aus der Ukraine kommt, hier auch Bürgergeld beantragt“, will Herbrik keine Neid-Diskussion anfachen. Dennoch ist sie gegen das „Zweiklassensystem“ unter Geflüchteten: „Das tut weder dem System noch der Gesellschaft gut.“ Es brauche daher schnellere Asylverfahren: Wer schneller in Arbeit komme, werde auch besser integriert.
Message für Linnemann
Wenn Tanja Herbrik CDU-Politiker und Bürgergeld-Kritiker Carsten Linnemann im Aufzug treffen würde, wüsste sie, was sie ihm mit auf den Weg geben würde: „Ohne Qualifikation ist die Vermittlung nicht nachhaltig“, sagt sie. „Das Augenmerk geht weg von den Personen, nur noch auf Vermittlung“, sag Lisa Pranter, Sprachkurse, Umschulungen, all das werde künftig wieder vernachlässigt.„Aber fehlende Qualifikation ist der Grund Nummer eins für Arbeitslosigkeit.“ Man müsse schauen, warum Menschen nicht in Arbeit kommen. „Auch wenn Leute nach dem fünften Qualifizierungsversuch aus den Maßnahmen fiel, auch das gab es“m räumt Tanja Herbrik ein. Nur habe man die Idee nie wirklich „fliegen“ lassen.
Außerdem ließen sich manche Dinge nicht ändern: Man kann von Alleinerziehenden nicht erwarten, Vollzeitstellen anzunehmen. „Ich kann Kinder nicht schneller alt machen“, sagt Tanja Herbrik.
Was man hingegen ändern könnte, davon hat sie ebenfalls eine klare Vorstellung, die sich aus der Praxis speist: „Eine bessere finanzielle Ausstattung der Jobcenter.“ Wenn die Behörde Geld von Integrationsmaßnahmen abziehen müssen, um die eigene Verwaltung aufrechtzuerhalten, laufe etwas falsch.
Arbeitslosenzahlen für den Landkreis Esslingen
Stand: 21. März 2025
SGB II und SGB III: 13.597 Personen insgesamt
SGB II: 6.636 insgesamt (3.485 Männer, 3.151 Frauen)
Bedarfsgemeinschaften im SGB II: 13.047 Personen
Personen insgesamt in den BGs: 25.559 – davon 6.785 Nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte
Quelle: Bundesagentur für Arbeit