Kirchheim
Warum sich 1973 die erste Kirchheimer Bürgerinitiative bildete

Engagement „Rettet die Altstadt“, nannte sich 1973 Kirchheims erste Bürgerinitiative. Sie verhinderte den Abriss des Spitalviertels. Danach ging es Schlag auf Schlag weiter mit Bürgerengagements – ein Blick auf das erste Jahrzehnt. Von Renate Schattel

Ansicht der Gebäude Marktstraße 28 und 26 anlässlich der Eröffnung der Filiale der Firma Schlecker im Gebäude 28. Foto: Stadt Kirchheim

In den 1970er-Jahren fingen die Kirchheimer Bürger an, auf die Straße zu gehen. Sie sammelten Unterschriften und mischten sich in die Planungen von Gemeinderat und Verwaltung engagiert ein. So konnte etwa die Bürgerinitiative „Rettet die Altstadt“ 1973 mit mehr als 2000 Unterschriften den Abriss des Spitalviertels verhindern.

Zuvor war der Wunsch nach einem Kaufhaus in Kirchheim entstanden. Die Stadtverwaltung sah dafür das Spitalviertel mit dem Alleenschulgelände auf dem Krautmarkt als geeigneten, zentrumsnahen Platz vor. Diese Planungen wurden jedoch durch die Bürgerinitiative zu Fall gebracht. Entstanden war die Gruppe aus dem Kern des Club Bastion, der 1968 als kulturell-literarisch-politischer Club gegründet wurde. Die Gründungsmitglieder wollten selbst etwas in Gemeinschaft bewegen. Im Club traf sich zudem die erste Amnesty-International Ortsgruppe. Die Partei „Die Neuen“ ging ebenso aus dem Club Bastion hervor, wie Kirchheims erste Bürgerinitiative „Rettet die Altstadt“.

Kaufhaus im Spitalviertel verhindert

Verhindert wurde der beabsichtigte Abriss von Gebäuden entlang der Kornstraße vom Spital bis zum Gasthaus Waldhorn. Die Bürgergruppe hatte ein Informationspapier ausgearbeitet und bewegte Leute auf der Straße dazu, ihre Unterschrift gegen die städtischen Planungen zu setzen. Sie führte Aufklärungsveranstaltungen durch, bis schließlich die interessierte Firma von ihrem Angebot zurücktrat. Die Gebäude blieben bis heute erhalten. Einzig die alte Alleenschule wurde abgebrochen und auf deren Platz die heutige Stadtbücherei gebaut. Im frisch renovierten Spital erhielten die Volkshochschule und zudem bis 1989 die Musikschule neue Räume. Ein Kaufhaus, das „Teckcenter“, konnte 1978  schließlich auf dem ehemaligen Bahnhofsgelände fertig gestellt werden.

Die Initiatoren der BI "Rettet die Altstadt" vor dem Spital. Foto: pr

Mit dem neuen Einkaufszentrum war zweifellos ein Anziehungspunkt für die Kirchheimer selbst wie auch für Besucher und Kauflustige aus der Umgebung entstanden. Um die Attraktivität der Innenstadt als gewachsenes Einkaufs- und Kommunikationszentrum weiter zu verbessern, war die Umgestaltung der Marktstraße zwischen dem Rathausbereich und dem Wachthaus ein wichtiger Schritt. Zunächst galt es allerdings, die Geschäftsleute davon zu überzeugen, dass Kunden ihre Einkäufe auch ohne Parkmöglichkeiten in der Marktstraße wie gewohnt tätigen würden. Zum Thema Fußgängerzone bildete sich eine weitere Bürgerinitiative. Die Verwaltung richtete einen „Arbeitskreis Fußgängerzone“ ein. Am Wochenende des 15. und 16. Oktober 1977 wurde die ausgebaute Fußgängerzone in der Marktstraße eingeweiht.

Naturdenkmal Lettenseen

Nur ein Jahr später wäre das einzigartige Biotop der ehemaligen Ziegelei im Nägelestal durch eine geplante Erddeponie beinahe zerstört worden. Die zahlreichen Tümpel und der Kegelesbach samt der Auen- und Streuobstwiesen waren durch den Tonabbau zu einer kleinen Oase geworden. Mitte der 1970er-Jahre stellte die Ziegelei den Abbau von Ton ein. Auch in diesem Fall wurde eine Bürgerinitiative aktiv und verhinderte die Errichtung der Deponie. 1979 konnten die Lettenseen als Naturdenkmal geschützt werden.

Die Diskussionsfreudigkeit der Kirchheimer Bevölkerung war schon seit der Gründung der Partei „Die Neuen“ im Jahr 1971 und deren Wahl in den Gemeinderat angewachsen. Zweck der Partei war die Förderung der kommunalpolitischen Arbeit in Kirchheim. Die Alternative Liste und die Grünen hatten in der kommunalpolitischen Arbeit ähnliche Zielsetzungen und arbeiteten eng zusammen. Mit der Gründung des Ortsverbands „Bündnis 90/Die Grünen“ 1982 etablierte sich das Bürgerengagement. Die Neuen und die Grünen bildeten ab 1984 die Fraktionsgemeinschaft der Grünen/Neuen im Gemeinderat.

Nicht alle Proteste waren erfolgreich
In der Kirchheimer Wellingstraße gab es einige baufällige Häuser, die 1980 im Zuge der Sanierung der „Heidenschaft“ abgerissen werden sollten. Die Wohnungsnot war in der Stadt allerdings so groß, dass junge Bürger dagegen protestierten und das Haus in der Wellingstraße 15 besetzten. Sie wollten erreichen, dass das Haus bewohnbar gemacht und vor dem Verfall gerettet wird. Die Hausbesetzung musste jedoch aufgegeben werden, die Häuser Nummer 14, 15, 18 und 24 fielen wie geplant der Abrissbirne zum Opfer.

Die ehemalige Gaststätte Lohrmannskeller an der Hahnweidstraße. Trotz hartnäckigen Widerstands musste der Keller der neuen Turnhalle des Ludwig-Uhland-Gymnasiums weichen. Foto: Stadt Kirchheim

Ebenso der Lohrmannskeller auf dem Milcherberg. Als 1981 beschlossen wurde, dass der Lohrmannskeller der neuen Turnhalle des Ludwig-Uhland-Gymnasiums weichen muss, gab es heftigen Protest und hartnäckigen Widerstand. Demonstranten besetzten die Bäume, die für das Bauvorhaben gefällt werden sollten. Mit großem Aufgebot pflückte die Polizei die Baumbesetzer von den Ästen und das Gelände wurde dem Erdboden gleich gemacht.

Ein Bürgerprotest gegen den Abriss der Brauereigebäude und des zugehörigen Gasthauses „Sonne“ war ebenfalls nicht von Erfolg gekrönt. Vergeblich war die Unterschriftenliste von 700 Bürgern, die Mitglieder der „Alternativen Liste“ gesammelt und am 15. Juni 1983 dem Kirchheimer Gemeinderat übergeben hatten. Sogar eine neu gegründete Band sollte den Abriss verhindern. Der Abriss der „Sonne“ hing mit den einschneidenden Veränderungen im Sanierungsgebiet „Altstadt Ost“ zusammen, das im Wesentlichen die „Heidenschaft“ umfasst. Der Bau von Wohnungen gegen die Wohnungsnot, Ladengeschäfte und Büros wurde im Oktober 1984 auf dem Areal der ehemaligen „Brauerei Sonne“ umgesetzt.

Erfolg hatte dagegen die „Initiative zur Errichtung einer atomwaffenfreien Zone Kirchheim“, die tatsächlich 1984 eingerichtet wurde. Der Gemeinderatsbeschluss sprach sich gegen die Stationierung und den Transport von Atomwaffen und anderen Massenvernichtungsmitteln (ABC-Waffen) im Umkreis von 50 Kilometern Luftlinie zum Stadtgebiet aus. Vorausgegangen waren die „Kirchheimer Friedenswochen“, Ostermärsche sowie Flugblattverteilungen der Kirchheimer Friedensinitiative und der Frauengruppe.

Gegen den Bau der Norwesttangente

Im selben Jahr verhinderten 13 234 Bürger mit ihrer Unterschrift in einem Bürgerentscheid den Bau der Nordwesttangente. Um den Verkehr in der Innenstadt zu entlasten und einen wirkungsvollen Verteilerring um selbige zu schaffen, wiesen städtische Planungen die Nordwesttangente aus. Die rund drei Kilometer lange Straßenverbindung sollte von der Autobahnausfahrt Kirchheim-West durch die Ötlinger Halde bis zur Plochinger Straße führen, bis zu 13 000 Fahrzeuge pro Tag aufnehmen und damit den Verkehr in der Innenstadt um durchschnittlich 20 Prozent verringern. Eine Anfang 1984 gegründete Bürgerinitiative befürchtete aber eine nur geringe Entlastung der Innenstadt und dafür die Zerstörung des großen Naherholungsgebietes Ötlinger Halde. Bei einer Wahlbeteiligung von 58 Prozent stellten sich letztlich 13 234 von 22 700 Stimmberechtigten beim Bürgerentscheid gegen den Bau der Nordwesttangente. Auch spätere Versuche, die Planungen erneut aufzunehmen, scheiterten.

Auf vielfältige und konstruktive Weise lebt Kirchheim seit mehr als 50 Jahren von und mit dem Bürgerengagement, wie bei der Veranstaltung „Gemeinsam für Toleranz und Menschlichkeit“ vor einigen Wochen wieder einmal bewiesen wurde.