Gesundheit
Warum wird häufiger abgetrieben?

Im Anschluss an die Pandemie ist die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche im Land deutlich gestiegen. Das Team der Kirchheimer Beratungsstelle „pro familia“ liefert mögliche Erklärungsansätze. 

Wenn ein positiver Schwangerschaftstest kein Anlass zum Feiern ist, kann das viele Gründe haben. Symbolbild.

Zwei Striche. Das heißt: Schwanger. Für Nora P. aus dem Landkreis Esslingen, deren echter Name der Redaktion aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht nicht bekannt ist, ist das jedoch kein Grund zur Freude. Sie hat bereits zwei Kinder und findet – trotz langer, intensiver Suche – keine Wohnung in einer angemessenen Größe. Ein drittes Kind? Unmöglich. Der Abbruch der Schwangerschaft erscheint ihr wie der einzig vernünftige Ausweg. 

Damit ist Nora P. nach Aussage der Diplom-Sozialarbeiterin Andrea Reicherzer nicht allein. Als Leiterin der Kirchheimer Beratungsstelle von „pro familia“ führt sie regelmäßig sogenannte Schwangerschaftskonfliktberatungen durch, die vorausgesetzt werden, damit eine Abtreibung in Deutschland straffrei bleibt. Bei diesen Beratungsgesprächen trifft Andrea Reicherzer öfter auf Frauen wie Nora P. – Frauen, die ungeplant schwanger sind und das Kind gerne behalten möchten, sich jedoch schweren Herzens für einen Abbruch entscheiden. 

Andrea Reicherzer äußert, dass es schwierig sei, konkrete und faktisch belegbare Ursachen für die deutschlandweit steigenden Abtreibungszahlen festzumachen. Basierend auf eigenen Beobachtungen könne das Team jedoch einige mögliche Erklärungsansätze liefern: „Gerade Familien waren und sind im Nachklang der Pandemie sehr erschöpft, weshalb die Entscheidung für ein weiteres Kind häufig schwerer fallen mag“, erklärt die Therapeutin. Die Entscheidung für oder gegen den Abbruch einer Schwangerschaft hänge neben einer Vielzahl von individuellen Faktoren, darunter lebensgeschichtliche Themen, Beziehungsstabilität, Lebensplanung, Alter, Gesundheit sowie die berufliche und finanzielle Situation, nun einmal oft auch mit gesellschaftlichen Realitäten zusammen.

Wie der Fall Nora P. beispielhaft verdeutlicht, ist der fehlende Wohnraum „ein Riesenproblem“, so Reicherzer. Hinzu kommen die steigenden Lebenshaltungskosten, ein Mangel an Kinderbetreuungsmöglichkeiten und nicht zuletzt der Ukraine-Krieg beziehungsweise damit verbundene Zukunftsängste. „Wir erleben Menschen, die sehr verunsichert und finanziell belastet sind“, bedauert die Leiterin der Beratungsstelle.

Diplom-Psychologe Joachim Elger weist allerdings darauf hin, dass man die Daten auch immer im Verhältnis zur Bevölkerungszahl sehen müsse: Es sei nicht auszuschließen, dass der Anstieg der Gesamtbevölkerung durch Zuwanderung und Kriegsgeflüchtete in den Statistiken noch nicht berücksichtigt sei.

Ältere Frauen eher betroffen

„Ganz häufig schätzen die Menschen, dass vorrangig sehr junge Frauen zu uns kommen“, erzählt Andrea Reicherzer. Das entspricht jedoch nicht der Wahrheit. Mehr als 70 Prozent der Frauen, die bei „pro familia“ in Kirchheim im vergangenen Jahr eine Schwangerschaftskonfliktberatung in Anspruch nahmen, sind über 25 Jahre alt. Die Mehrheit hat schon Kinder.

Auch auf Bundesebene steigt die Quote der Schwangerschaftsabbrüche bei den älteren Frauen tendenziell an, während sie bei den jüngeren Frauen tendenziell sinkt. Im Zehnjahresvergleich zeigte sich ein deutlicher Rückgang bei den 15- bis 24-jährigen Frauen; ein sehr prägnanter Anstieg wurde bei den 30- bis 44-jährigen Frauen verzeichnet.

Joachim Elger merkt jedoch an, dass man auch hier demografische Faktoren nicht ganz außer Acht lassen dürfe: Durch die Alterung der deutschen Bevölkerung gebe es schlichtweg mehr ältere und weniger jüngere Frauen als noch vor einem Jahrzehnt.

Der Diplom-Psychologe betont zudem, dass ungeplante Schwangerschaften in der Regel nicht entstehen, „weil Frauen nicht verhüten, sondern weil Verhütung nun einmal Grenzen hat und Unfälle passieren“. 

Verhütung ist kostspielig

Man müsse auch bedenken, dass zuverlässige Verhütungsmittel oft ein happiges Preisschild haben, argumentiert Andrea Reicherzer. So spreche sie vermehrt mit Frauen, die sich hormonelle Verhütung nicht oder nur schwer leisten könnten.

Eine Forderung von „pro familia“ ist daher, dass auch für Frauen über 21 Jahren die Verhütung von der Krankenkasse übernommen wird, „sodass jeder eine gute Verhütungsart wählen kann“.

Generell, so Reicherzer, seien die Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch so vielfältig wie die Frauen, die diesen in Anspruch nehmen. Das Vorurteil, dass viele Frauen aus Leichtfertigkeit schwanger werden und „einfach mal so“ abtreiben würden, sehe sie überhaupt nicht. Die Therapeutin betont, dass eine ungeplante Schwangerschaft jeder Frau passieren könne. „Wir erleben es nicht, dass eine Frau sich die Entscheidung für einen Abbruch leichtmacht.“

 

Relevante Zahlen

Im Jahr 2023 wurden in Baden-Württemberg laut Statistischem Bundesamt 7,6 Prozent mehr gemeldete Abbrüche erfasst als im Vorjahr.

Dieser Trend hat sich im ersten Halbjahr 2024 fortgesetzt: Mit rund 6200 Fällen wurde ein Anstieg von 9,5 Prozent im Vergleich zum ersten Halbjahr 2023 verzeichnet.

Auch auf Bundesebene nimmt die Zahl der Abtreibungen zu. Die Geburtenrate fällt indessen.

Eine Ausnahme war das Jahr 2021, in dem die Abtreibungsrate auf einem absolut niedrigen Niveau war. Von 94.596 gemeldeten Abbrüchen im Jahr 2021 stieg die Zahl im Folgejahr auf 103.927 an.

Gleichzeitig schoss 2021 die Geburtenrate in die Höhe. In Deutschland wurden so viele Kinder geboren, wie seit rund 25 Jahren nicht mehr. Dieses Phänomen nennt man auch Coronaboom.