Kirchheim
Was Betroffene bei der Evakuierung der Regionalbahn in Plochingen erlebt haben

Zugverkehr Am Freitagabend hat sich zwischen Plochingen und Wendlingen ein Bahnunfall ereignet. Rund 300 Menschen müssen anderthalb Stunden im verrauchten Zug ausharren, bevor sie gerettet werden. Von Antje Dörr

Die Regionalbahn muss kurz nach dem Bahnhof Plochingen evakuiert werden. Foto: SDMG

Den Freitagabend wird Julia H. (Name geändert) so schnell nicht vergessen. Die 23-jährige Nürtingerin sitzt im hintersten Waggon einer Regionalbahn und hört Musik. Gerade hat der Zug, der nach Stuttgart fährt, den Plochinger Bahnhof verlassen. An der Regionalbahn zieht ein ICE vorbei. H. wundert sich, dass die Bahn immer wieder abbremst, denkt sich aber zunächst nichts dabei. Plötzlich knallt es laut. „Ich dachte, wir haben jemanden überfahren“, erinnert sich Julia H. an diesen Schockmoment. Der Zug bremst stark ab, Funken sprühen von der Decke. Rauch dringt ins Innere des Abteils. H., die ohnehin Probleme mit den Bronchien hat, bekommt Atemnot, auch unter den anderen Fahrgästen herrscht große Unruhe. „Dann kam eine Durchsage des Lokführers, dass wir uns in Lebensgefahr befinden, weil die Oberleitung auf den Zug gefallen ist“, sagt H. „Man wusste nicht, ob der Zug gleich Feuer fängt oder irgendwas explodiert“. 

 

Man war einfach gefangen und konnte nichts machen.
Julia H., Reisende aus Nürtingen

 

Was Julia H. erlebt hat, bestätigt ein Bericht der Bundespolizei. In der Regionalbahn, die mit 300 Reisenden besetzt und von Stuttgart nach Tübingen unterwegs ist, sei es gegen 18.10 Uhr kurz nach dem Plochinger Bahnhof zu einer Zwangsbremsung gekommen. Die Ursache ist laut Polizei noch nicht abschließend geklärt, die Bundespolizeiinspektion ermittelt wegen des Verdachts der Gefährdung des Bahnverkehrs. Aktuell geht sie von „menschlichem Versagen“ aus. Im Zentrum der Ermittlungen steht der Lokführer. Einige Ursachen für die Zwangsbremsung sind schon ausgeschlossen worden. „Es lag nichts auf den Gleisen, es waren keine Personen auf dem Gleis und es hat auch kein Reisender die Notbremse gezogen“, sagt Denis Sobek, Sprecher der Bundespolizeiinspektion Stuttgart, auf Anfrage. 

Während die Menschen im Zug versuchen, Ruhe zu bewahren, wird von außen die Evakuierung vorbereitet. „Wir wurden gebeten, in Richtung Fahrer zu laufen“, sagt Julia H.. Raus darf keiner, Fenster und Türen müssen geschlossen bleiben, bis die Lebensgefahr, die unter anderem durch die auf den Zug gefallene Oberleitung ausgeht, gebannt ist. Für Julia H., die mit ihrer Atemnot kämpft und ohnehin unter Platzangst leidet, eine schier unerträgliche Situation. „Ich habe im Zug eine Panikattacke erlitten“, sagt sie. H. wird rund anderthalb Stunden später die erste sein, die den Zug verlassen darf, die anderen Passagiere hätten sie nach vorne durchgelassen. Sie erhält Sauerstoff durch eine Maske, eine Behandlung im Krankenhaus lehnt sie ab. Zwei Tage später wirken die Erfahrungen immer noch nach. „Man war einfach gefangen und konnte nichts machen“, sagt sie. 

Viele Rettungskräfte, unter anderem 18 Feuerwehrleute aus Plochingen, waren im Einsatz. Foto: SDMG

Weil die Fahrgäste die Bahn nur durch eine Tür verlassen dürfen, dauert die Evakuierung rund eine Stunde. Draußen werden sie von Rettungskräften über die Gleise geführt. Die Bundespolizei berichtet von zwei verletzten Personen. Einige Reisende seien außerdem mit Löschmittel in Kontakt gekommen. Im Einsatz sind mehrere Streifen der Bundes- und Landespolizei, ein Polizeihelikopter, 18 Feuerwehrleute aus Plochingen, zwei Rettungswagen, ein Notarztwagen und fünf Mitarbeiter des Eisenbahnverkehrsunternehmens. Die Bahnstrecken zwischen Plochingen und Wendlingen sowie zwischen Plochingen und Göppingen müssen zeitweise komplett gesperrt werden, mit Folgen für den Nah und Fernverkehr. Ab zirka 21.30 Uhr können die meisten Gleise Stück für Stück wieder freigegeben werden.

Das Gleis, auf dem die Regionalbahn steht und deren Oberleitung beschädigt ist, bleibt jedoch bis weit in die Nacht hinein gesperrt. Das ist eine Information, die Claus Eberle, der um 0 Uhr mit seiner Frau in Bad Cannstatt in die S-Bahn nach Kirchheim steigt, gerne vor Betreten des Zugs gehabt hätte. Als in Plochingen plötzlich Schluss ist, fallen der Kirchheimer und die anderen zirka 200 Reisenden aus allen Wolken. „Es gab keinerlei Information, keinen Ersatzverkehr. Nichts!“, ärgert sich Eberle. Da der Zug schon vorher außerplanmäßig halten musste, ist es bereits 1 Uhr in der Nacht. Vor dem Plochinger Bahnhof hätten sich chaotische Szenen abgespielt, weil rund 200 Reisende versucht hätten, ein Taxi zu ergattern. Eine halbe Stunde später haben auch Eberle, seine Frau und ein weiteres Paar aus Kirchheim Glück. Die Rechnung wird Eberle bei der Deutschen Bahn einreichen. Es bleibt ein fader Beigeschmack. „Ich finde das eine Frechheit, die Leute einfach ohne jegliche Information in den Zug einsteigen zu lassen“, sagt Eberle, der nach eigenem Bekunden vielleicht ein Mal im Jahr mit dem Zug fährt. Ob er darauf nochmal Lust hat, müsse er sich überlegen, sagt er.