Kirchheim. „Vieles kann man nicht mit der Sprache sagen, aber mit Tanz“, erklärt Brigitte Heidebrecht in der virtuellen Lesung, die Teil der internationalen Wochen gegen Rassismus ist. Und so liegt es nahe, dass die Mediatorin ihren Nebenjob als Tanzpädagogin nutzte, um 2015 Zugang zu den Geflüchteten zu finden. Als „Jahr der Willkommenskultur“ bezeichnet die engagierte Ludwigsburgerin die Zeit – nicht als „Flüchtlingskrise“.
Auf Youtube sah sie sich damals Videos der taditionellen Tänze Syriens und Afghanistans an. In einer Flüchtlingseinrichtung fragte sie die jungen Männer: „Könnt ihr mir das beibringen?“ Sie konnten. Der Kontrast faszinierte Brigitte Heidebrecht: „So fremd wie der junge Bauernbub aus Afghanistan kann mir niemand sein. Die jungen Männer sind Analphabeten, ich schreibe Bücher.“
Über ihre Erfahrungen hat Brigitte Heidebrecht ein Buch geschrieben. „Fernreise daheim: Von Flüchtlingen, Kulturen, Identitäten und anderen Ungereimtheiten“, heißt es. Die Kapitel sind kurz und erzählen die Geschichten der jungen Afghanen.
Da ist Hafiz, der ihr lange nicht sagen will, wieso er eine wichtige Überweisung noch nicht von seinem Hausarzt geholt hat. Nach langer Diskussion gesteht er leise: „Dort sind überall fremde Frauen.“ Denn die einzigen Frauen, mit denen er bisher gesprochen hat, gehören allesamt zur engsten Familie. Das Verhältnis zum anderen Geschlecht bleibt ein Konfliktthema, genauso wie Termine. So berichtet sie von Rachman, der aus Pflichtgefühl einem Freund gegenüber Termine mit einer ehrenamtlichen Helferin sausen ließ.
„Kaum einer der Männer, die ich begleitet habe, wäre in seinem Heimatland noch am Leben“, ist sich Brigitte Heidebrecht sicher. Sie berichtet beispielsweise von einem jungen Polizisten, der vor den Taliban fliehen musste, nachdem sein Bruder, der mit ihm gegen die Terrorgruppe kämpfte, entführt und getötet worden war.
Wie geht es „ihren Jungs“ heute? Beruflich wandeln sie auf unterschiedlichen Pfaden. Einer arbeitet bei der Stadtreinigung, einer im Altenheim in der Küche. „Flügge“ wirken die Männer beinahe.
Doch glücklich sind sie nicht. Der eine braucht mittlerweile Medikamente, so traumatisiert ist er. Der andere wurde am Handy zwangsverheiratet. Jetzt drohen ihm mehrere Onkel der Braut mit Blutrache, wenn er seine neue Frau nicht zu sich holt. „Der Junge ist mittlerweile völlig kaputt.“ Viele der Geflüchteten bleiben über das Handy wie mit einer Nabelschnur mit ihrem Heimatland verbunden. „Afghanistan ist eine Katastrophe: Ständig sind Verwandte krank, ständig fordern die Taliban Lösegeld für einen geliebten Menschen. Das ist für die Menschen ein permanenter, maximaler Stresspegel.“ Katharina Daiss
„Lesungsfilm“ mit Musik
Für ihr Publikum hat sich Brigitte Heidebrecht etwas Besonderes einfallen lassen: Statt immer wieder dieselben Geschichten vorzutragen, hat sie einen „Lesungsfilm“ erschaffen.
Für den Film bekam sie Hilfe von einem der Geflüchteten, die sie betreut. Der nahm die Autorin auf, wie sie ausgewählte Kapitel vorträgt und die Geschichten reflektiert.
Aufgelockert wird der Vortrag mit kurzen Sequenzen afghanischer Musik. Dazu werden Bilder aus Afghanistan oder der Flüchtlingsarbeit gezeigt.
Wer nicht an der Lesung teilgenommen hat, kann die Geschichten nachlesen. Das Buch „Fernreise daheim“ ist in Heidebrechts Verlag Große Sprünge erschienen und unter anderem über den Verlagsshop bestellbar. kd