Wer auf dem Weg zur Klimawende das Geheimnis dynamischer Marktprozesse lüften will, muss fliegen. Nicholas Loughlan reist kommende Woche nach Schanghai, um zu verstehen, weshalb China als kommender Weltmarktführer bei der Nutzung von Wasserstoff gilt. Zuvor war Loughlan, seit diesem Monat neuer Chef für den Technikbereich beim Brennstoffzellen-Entwickler Cellcentric, am Mittwoch Gast im Alten Gemeindehaus in Kirchheim. Dorthin hatten die Grünen in der Stuttgarter Regierung mit ihrem aus Kirchheim stammenden Fraktionschef Andreas Schwarz eingeladen. Das Thema des Abends in prominenter Runde, an dem auch Baden-Württembergs Umweltministerin Thekla Walker und der Esslinger Landrat Marcel Musolf teilnahmen, verbindet alle: Wie lässt sich der Markt für die Nutzung von grünem Wasserstoff auf breiter Front öffnen, und wie lässt sich sicherstellen, dass der erwartete Energieträger der Zukunft in ausreichender Menge verfügbar und auch bezahlbar wird? Klar ist: Die Zeit drängt, denn die Konkurrenz – allen voran China – gibt das Tempo vor. Was man bei Herstellung und Vertrieb von Solarmodulen erlebt habe, dürfe sich nicht wiederholen, betonte Ministerin Walker. In der Solartechnik steckt viel Know-how aus dem Land, hergestellt und verkauft werden die Module seit Jahren aber fast ausschließlich in Asien. Elektrolyse-Technologie aus Baden-Württemberg sieht Andreas Schwarz hingegen auf dem Weg zum Exportschlager. Das Land befinde sich in einer guten Ausgangsposition – nicht zuletzt wegen intensiver Forschung und Unterstützung durch die Landesregierung.
Die Erwartungen an den Bund sind nach dem Berliner Regierungswechsel entsprechend groß. Über die vier wichtigsten Säulen, die es für einen raschen Markthochlauf braucht, waren sich alle Vertreter einig: mehr Tempo, Planungssicherheit, eine klare Strategie beim Aufbau der nötigen Infrastruktur und den Schulterschluss von Wissenschaft und Unternehmen. Walker forderte einen verlässlichen Förderrahmen und Bürgschaften als Starthilfe bei Investitionen. „Ohne Planungssicherheit arbeiten wir mit Risikokapital“, pflichtete ihr Cellcentric-Sprecher Nicholas Loughlan bei. „Und davon haben wir zurzeit definitiv zu wenig.“ Bis zu klar definierten Leitplanken will man im Land „im kleinen Rahmen“, wie Walker betonte, als Modellregion vorangehen. „Wenn wir in die produktive Phase kommen, werden wir auch schnell günstigere Preis bekommen“, ist die Umweltministerin überzeugt. Am Montag dieser Woche legte Walker im Stuttgarter Hafen den Grundstein zum Bau der ersten Elektrolyse-Anlage für grünen Wasserstoff (siehe Infoteil). Mit dem geplanten Brennstoffzellen-Werk in Weilheim soll auch der Ausbau des Tankstellennetzes vorangehen. Wasserstoff kann im Kreis Esslingen bisher nur in Wendlingen und am Flughafen getankt werden. In Weilheim ist ein weiterer Standort als Gemeinschaftsprojekt mit der Wirtschaft in Autobahnnähe geplant.
Unsicherheit ist ein Hemmschuh für jede Investition.
Landrat Marcel Musolf fordert verlässliche Leitplanken beim Ausbau der Wasserstoff-Infrastruktur.
Auch im Esslinger Landratsamt hat man die Zeichen der Zeit erkannt. Dort gibt es unter dem Dach der Wirtschaftsförderung inzwischen eine Stabsstelle, die informiert und vermittelt. Vor zwei Jahren bereits hat der Kreis eine Potenzial-Analyse für Wasserstoff in Auftrag gegeben. In der Esslinger Weststadt gibt es ein klimaneutrales Wohnquartier zu bestaunen, das basierend auf Wasserstoff beheizt und gekühlt wird und bei der Internationalen Bauausstellung (IBA) in zwei Jahren als Beitrag an den Start gehen wird. Gleichzeitig verkehren in der kreiseigenen Straßenmeisterei zwei Fahrzeuge mit Brennstoffzellenantrieb. All das geschieht im engen Schulterschluss mit der Esslinger Hochschule.
Dennoch zeigt sich der Esslinger Landrat besorgt: Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das den Klima- und Transformationsfonds aus Corona-Mitteln vor eineinhalb Jahren einkassiert hat, nehme er eine starke Verunsicherung in der Wirtschaft wahr. „Und Unsicherheit ist ein Hemmschuh für jede unternehmerische Investition“, sagte Musolf. Was es brauche, sei ein klares politisches Bekenntnis zu Wasserstoff als Zukunftstechnologie.
Doch ist Wasserstoff tatsächlich der Schlüssel aus der Treibhausgas-Falle? Oder besetzt der klimafreundliche Energieträger nur eine Nische, wie ein Zuhörer in der abschließenden Fragerunde anmerkte? In energieintensiven Industriebereichen wie in der Stahl- oder Chemieindustrie gehöre Wasserstoff die Zukunft, stellte Technik-Experte Nicholas Loughlan fest. Ebenso überall dort, wo es in der Mobilität um hohes Gewicht und große Reichweiten gehe. Nutzfahrzeuge seien das Rückgrat einer jeden Gesellschaft. „Die Dekarbonisierung ist deshalb das Kernthema der Wirtschaft.“
Dass es aus seiner Sicht auch in Zukunft nicht nur eine Antriebstechnologie geben könne, machte Loughlan anhand eines Fotos deutlich: mit einer Luftaufnahme der Autobahn-Raststätte in Denkendorf, wo sich Sattelzug an Sattelzug auf einem überfüllten Parkplatz reiht. „Irgendwann am Nachmittag oder Abend“, sagte der Mann von Cellcentric mit Blick in die Zukunft, „müssen die alle ans Netz.“
Auftakt für ein neues Energie-Zeitalter
Im Stuttgarter Hafen haben die grüne Umweltministerin Thekla Walker, Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper und Vertreter der Stadtwerke am Montag den Spatenstich für die erste Großanlage zur Erzeugung von grünem Wasserstoff gefeiert. Die erste Wasserstoff-Raffinerie in der geplanten Modellregion Stuttgart soll in Verbindung mit einer knapp sieben Kilometer langen Pipeline durchs Neckartal Industrie und auch Kommunen bei der Umstellung des öffentlichen Nahverkehrs auf alternative Antriebe versorgen.
Der „Green Hydrogen Hub“ in Hedelfingen soll rund 50 Millionen Euro kosten und ist die bisher größte geplante Anlage dieser Art im Land. Knapp 17 Millionen Euro fließen in Form von Fördergeldern vom Verband Region Stuttgart, der EU und dem Land in das Projekt. Ab Ende 2026 sollen in vier Elektrolyseuren bis zu 1200 Tonnen grüner Wasserstoff erzeugt werden. Mit der bei der Elektrolyse entstehenden Abwärme können laut Stadtwerke bis zu 1200 Haushalte versorgt werden. Die für die Herstellung benötigte Energie soll aus überschüssigem Wind- und Solarstrom stammen. bk