Irgendwann ist es tatsächlich mucksmäuschenstill in der Konrad-Widerholt-Halle in Kirchheim. Dann kommt eine klare Ansage von Adrian Turner an die Schülerinnen und Schüler des benachbarten SBBZ (Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum) mit Förderschwerpunkt Lernen. Adrian Turner kommt vom „Stuttgarter Ballett JUNG“ und ist leidenschaftlicher Tänzer. Mit der gleichen Begeisterung ist er an diesem Morgen engagierter Tanzpädagoge. Gemeinsam mit Marieke Lieber bringt er den Kids die Lust an schöner Bewegung näher. „Ihr müsst authentisch bleiben, jeder Körper ist anders“, sagt er, um wenig später deutlich zu werden: „Ihr müsst konzentriert sein auf das, was ihr macht! Wir sind hier nicht in La La Land – ihr müsst zuhören!“
Adrian und Marieke haben die aufgeweckten Schüler im Blick, nehmen ihre Bewegungen wahr. „Ich will keinen Po sehen, weil die Zuschauer wollen auch keinen Po sehen. Vorne eine Welle und dann so“, sagt er, während er elegant zu Boden gleitet, um im nächsten Moment in einer fließenden Bewegung wieder aufzustehen. „Fallen und legen, vor und hoch“, leitet er die Kinder an. Viele schauen konzentriert zu Adrian und versuchen gleichzeitig, die Bewegungen nachzumachen. Das klappt teilweise schon richtig gut. „Füße zusammen. Ihr müsst Orientierung haben, ihr seht euch gegenseitig – ihr seid eine Gruppe. Nur manchmal gibt es ein Solo“, schallt es durch die Halle. Kurze Zeit später ist er zufrieden, alle sind zusammen in der Bewegung, aber dann kommt die nächste Ansage: „Rechts, rechts, alle hoch – fallen, nicht schlafen. Wir müssen wach und aufmerksam und in Bewegung bleiben. So müssen wir auch durchs Leben gehen“, schiebt er nach. Weiter rät er seinen Eleven, ihren Traum zu finden. „Eure Träume sollen eure Schätze sein“, gibt er ihnen mit auf den Weg, ehe er sie in die Pause entlässt.
Das „Stuttgarter Ballett JUNG“ und Porsche Deutschland bieten gemeinsam das Tanzpatenschaftprojekt „Keep moving“ an. Durch Tanz und Kreativität sollen die Schülerinnen und Schüler für Kunst und Kultur begeistert werden. Das Projekt hat im November begonnen. Seitdem üben der Tanzpädagoge und die Tanzpädagogin regelmäßig mit den Schülerinnen und Schülern der fünften und sechsten Klassen der Konrad-Widerholt-Schule in Kirchheim. Sie bringen ihnen die verschiedenen Aspekte des Tanzens und der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten bei und entwickeln eigene choreografische Szenen. Am Ende des Projekts gibt es noch eine Intensivwoche an der John Cranko Schule in Stuttgart, an deren Ende das Highlight steht: die Aufführung dort.
„Die Klassenlehrerinnen sind Teil des Projekts, wir sind nur die Vermittler. Wir vermitteln Tanz und Kunst – nur darum geht es“, sagt Adrian zwischen zwei Bissen während der wohlverdienten Pause. Sein Sandwich belegt er mit unterschiedlichen leckeren Zutaten selbst, schließlich kommt er aus Yorkshire in England. Ruhig mit den Schülern zu arbeiten ist ein weiterer wichtiger Baustein, damit die Kids zu einer homogenen Gruppe werden. „Es ist enorm, was sie leisten müssen: Vorausdenken, was als nächstes kommt, immer präsent bleiben in der Situation, Körperbeherrschung. Koordination ist schwierig“, erklärt er und Klassenlehrerin Monika Bosler-Keppler fügt hinzu: „Ich bin jedes Mal berührt, das hier zu sehen. Meine Schüler werden die Zeit mit Adrian und Marieke vermissen“, ist sie sich sicher.
Die Pause ist vorbei, irgendwann sind alle eingetrudelt. „Liegen und loslassen“, heißt es jetzt. Ganz langsam sollen sich die Schülerinnen und Schüler auf den Bauch rollen, die Arme ausstrecken und sich vorstellen, als ob jemand sie ziehen würde. Und plötzlich herrscht minutenlang absolute Stille – das mit dem Loslassen hat funktioniert. „Jetzt nach hinten kommen, auf die Knie, richtig laaaaang hochstrecken“, holt sie Adrian mit einer Bewegungsreihenfolge in die Realität zurück. Wieder in der Senkrechten, darf sich jeder bewegen wie er oder sie will. Eine erstaunliche Homogenität entsteht. Der Trainer korrigiert einprägend: „Nicht oben bleiben wie eine Primaballerina, es geht weiter. Sitzt du auf einem Pferd? Beine zusammen.“ Damit das mit dem richtigen Blick, sprich der Kopfhaltung besser wird, greifen er und Marieke korrigierend ein.
Richtig gut sehen die Bewegungen schon aus. „Es ist wie ein Magnet: Ihr verbindet euch, die Bewegungen verbinden sich. Es ist kein Kampf, es ist ein Bewegungsspiel“, erklärt Adrian, ehe er die Schülerinnen und Schüler für ihre Mitarbeit lobt und sie für diesen Tag verabschiedet. „Es war wieder vergnüglich, mit euch zu arbeiten“, sagt er zufrieden, auch – oder gerade deshalb – weil einer der Jungs an diesem Tag „Ameisen in der Unterhose“ hat.
Die beiden Tanzpädagogen
Adrian Turner wurde in England geboren und lebt heute in Stuttgart. Sein Tanz- und Theaterstudium absolvierte er an der Ballet Rambert School in London sowie an der Martha Graham School und der Merce Cunningham School in New York. Als Tänzer, Darsteller und Choreograf wirkte er in unterschiedlichen Produktionen in ganz Europa, unter anderem an der Bayerischen Staatsoper in München, an der Oper Stuttgart, bei den Bregenzer Festspielen und am Theater Bern. Er arbeitete unter anderem mit den Choreografen Michael Keegan-Dolan, Marco Santi und Richard Wherlock. Als Choreograf war er an Filmproduktionen, auch mit Helmut Dietl und Philipp Stölzl, beteiligt.
Seit einigen Jahren widmet er sich intensiv der Tanzvermittlung und Tanzpädagogik. Beispiele für seine umfangreiche Arbeit sind das Musik- und Kunstprojekt „Jetzt!“ des Vereins Open_Music, das Projekt Begegnungen, einem Tanzprojekt mit Breakdancern, eine Orpheus-Produktion mit Schülern im sonderpädagogischen Bereich, seit 2010 das Projekt „IMPULS MusikTheaterTanz“ für das Stuttgarter Ballett.
Marieke Lieber ist gebürtige Stuttgarterin, erhielt ihre Tanzausbildung an der John Cranko Schule und wurde direkt nach ihrem Abschluss 1994 Mitglied des Stuttgarter Balletts. In den zehn Jahren als Tänzerin der Compagnie tanzte sie ein breit gefächertes Repertoire an klassischen, neoklassischen und zeitgenössischen Werken. Als Tänzerin arbeitete sie sehr eng sowohl mit Mauro Bigonzetti, der eigens für sie Rollen in Stücken wie Kazimir’s Colours, Quattro Danze per Nino und Orma kreierte, als auch mit Marco Goecke in den Produktionen Blushing, Ickyucky und Ring Them Bells zusammen. 2003 absolvierte sie ihre Ausbildung zur Ballettpädagogin. Sie beendete ihre aktive Tanzkarriere 2005. Nach der Geburt ihrer zwei Kinder arbeitete sie als Produktionsassistentin bei der Uraufführung von Marco Goeckes Nussknacker und seit 2009 als Tanzpädagogin in zahlreichen Projekten mit Schulklassen, Kindern und Jugendlichen für das Stuttgarter Ballett. Für das Stuttgarter Ballett führt sie mehrwöchige Workshops an Schulen mit besonderer pädagogischer und sozialer Aufgabenstellung durch.