Kirchheim. „Ich mache mir große Sorgen um den Standort Deutschland“: Die FDP-Bundestagsabgeordnete Renata Alt kommt in ihrer Sommerbilanz sofort zur Sache. „Befristete Verträge werden nicht verlängert, neue Mitarbeiter werden nicht eingestellt, immer mehr Kurzarbeit wird beantragt - so läuft es augenblicklich im Kreis Esslingen.“ Daraus schließt sie auf übergeordnete Probleme: „Da geht es nicht nur um Deutschland, sondern um Europa. Deutschland war schon immer der Motor für Europa. Wenn es hier bergab geht, geht es in ganz Europa bergab.“
Zwar sieht sie bessere Mechanismen am Werk, die eine Rezession wie 2008 verhindern können. Aber dafür gibt es ganz neue Parameter: „Boris Johnson setzt den Brexit bis Ende Oktober um - egal wie. Dazu kommt noch die Trump-Politik.“ Außer direkten Strafzöllen gebe es noch die indirekten Einflüsse Trumps auf die EU, und die seien viel verheerender: „Im Handelskrieg zwischen den USA und China werden wir die Hauptleidtragenden sein.“
Wenn sie dann an die hausgemachte Diskussion um Dieselfahrverbote denkt, kann Renata Alt nur den Kopf schütteln: „Für mich ist es nicht nachvollziehbar, wie man an dem Ast sägen kann, auf dem man selbst sitzt.“ Vom Standort Deutschland würde sie erwarten, dass die Automobilindustrie die Führungsrolle für neue, zukunftsträchtige Antriebe übernimmt.
„Das ist ja nicht nur ein Problem für Deutschland, sondern für ganz Mitteleuropa. Die Visegrád-Länder sind doch die verlängerte Werkbank Deutschlands.“ Diese Länder - Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn - sitzen wirtschaftlich auf demselben Ast wie Deutschland, höchstens noch etwas weiter außen. Die Visegrád-Gruppe ist aber auch das Spezialthema der Kirchheimer FDP-Politikerin. Für ihre Fraktion ist sie die Visegrád-Berichterstatterin. Außerdem ist sie die Vorsitzende der Parlamentariergruppe Slowakei-Tschechien-Ungarn.
Was ihr auch über „Visegrád“ hinaus weiterhilft, ist ihre Muttersprache: „Slowakisch gilt als das Esperanto der slawischen Sprachen. Mein ganz großer Vorteil ist, dass man über die Sprache viel erreichen kann.“ Es geht um gegenseitiges Verständnis. Wer dieselbe Sprache spricht, bekommt schnell einen Vertrauensvorschuss.
Renata Alt kann dadurch aber auch besser zuhören und Nuancen erkennen. Bei ihrer jüngsten Warschau-Reise in Begleitung des Außenministers hat sie folglich die nationalistischen Untertöne im Gedenken an den Aufstand vor 75 Jahren nicht überhört. „Als der Oberbürgermeister von Warschau Toleranz und Offenheit angesprochen hat, wurde er von mindestens einem Drittel der Anwesenden ausgebuht. Wenn man das in der Originalsprache versteht, ist es noch viel extremer.“
Bei Debatten um die Flüchtlingspolitik müsse man in Polen und Ungarn den historischen Hintergrund kennen: „Das Flüchtlingsthema fängt dort im Jahr 1526 an, als Polen und Ungarn in der Schlacht bei Mohács gemeinsam mit den Habsburgern gegen die Osmanen gekämpft haben. Das muss man wissen, wenn man über dieses Thema spricht.“ Trotzdem müsse man immer auch die Freiheit der Presse und der Justiz offen ansprechen: „Am besten kann sich Europa da beim Haushalt durchsetzen. Beim Geld kann man Polen und Ungarn empfindlich treffen.“
Freilich müsse Europa im Umgang mit seinen östlichen Ländern vorsichtig sein: „Der Einfluss von Russland und China ist immens.“ Das gelte auch für Albanien und Nord-Mazedonien, wo sich Renata Alt gemeinsam mit zwei Kollegen einen Eindruck verschafft hat - im Blick auf mögliche EU-Beitrittsverhandlungen. Mit Sorge hat Renata Alt indessen die Reise von Gesundheitsminister Jens Spahn in den Kosovo beobachtet: „Wenn wir dort Pflegefachkräfte abwerben, tragen wir mit dazu bei, dass die junge Generation abwandert. Dann schaffen wir in solchen Gebieten nichts anderes als das Altenheim Europas.“ Andreas Volz