Gesundheit
Wenn Essen zum Problem wird

Der Griff in den Kühlschrank wird zum Komfortspender: Viele Jahre lang leidet Rebecca an einer Essstörung. Die Beratungsstelle der Kreisdiakonie Esslingen unterstützt sie im Kampf gegen die Krankheit. 

Essen, statt sich den eigenen Emotionen zu stellen: Viele Betroffene schlucken ihre Gefühle wortwörtlich herunter. Symbolbild: Carsten Riedl

Genuss, Energiegewinnung, Kontrolle: Essen kann viele Funktionen haben. Doch was, wenn das Essverhalten selbstzerstörerische Formen annimmt? Essstörungen werden auch in Deutschland immer häufiger diagnostiziert. Oft beginnt die Krankheit schon in jungen Jahren und zieht sich bis ins Erwachsenenalter.

Auch bei Rebecca Ritter (Name geändert) zeigen sich die ersten Symptome der Erkrankung bereits zu Teenagerzeiten. Beinahe 20 Jahre lang hatte die heute erwachsene Frau mit einer Essstörung zu kämpfen. Zu ihrer Schulzeit treibt sie stets viel und intensiv Sport. Mit dem Beginn ihrer Ausbildung ist zeitlich nicht mehr vereinbar. Trotz fehlender Bewegung isst sie weiter, wie gewohnt. „Die ersten Jahre hat man das gar nicht wirklich gemerkt“, erzählt Rebecca. „Mal ein Kilo hier, mal ein Kilo da. Es war ein schleichender Prozess.“

Ständiger Druck auf der Arbeit wird zur zusätzlichen Last, und Rebecca beginnt, den Stress in sich hineinzufressen. „Essen hatte einen beruhigenden Effekt für mich“, erklärt sie. Die Muster sitzen schon viel zu tief, bevor sie bemerkt, dass etwas nicht stimmt.

Es ist nicht so wichtig, was auf der Waage steht. Ich bin, wer ich bin. Egal, was ich wiege.

Rebecca Ritter, Betroffene 

 

Dass ihre Essgewohnheiten in einem tiefergreifenden psychologischen Problem verankert sind, realisiert Rebecca lange nicht. Wie viele Menschen assoziiert sie den Begriff „Essstörung“ zu dieser Zeit in erster Linie mit Krankheiten wie Magersucht und Bulimie. Dass auch dem Übergewicht eine Essstörung zugrunde liegen kann, wird in der öffentlichen Debatte oft überschattet. „Ich habe mich lange gar nicht als Person mit einer Essstörung eingestuft“, gesteht sie. „Von der Gesellschaft hieß es immer nur: Du bist einfach zu faul. Mach mal mehr Sport!“

Professionelle Hilfe ist nötig

Um Gewicht zu verlieren, meldet sich Rebecca für das Abnehmprogramm „Weightwatchers“ an. Eine Zeit lang purzeln die Pfunde, doch der Erfolg hat ein Ablaufdatum: Schicksalsschläge schleudern Rebecca in alte Gewohnheiten zurück. „Ich wusste, was ein normales Essverhalten ist und was ich zu tun hatte“, so Rebecca. „Es hat trotzdem nicht funktioniert. Das Problem waren für mich die Gefühle.“

Auch Rebeccas langjährige Beziehung beginnt schließlich, unter ihrer Unsicherheit und ihrem fehlenden Selbstwertgefühl zu bröckeln. Notgedrungen fällt die gemeinsame Entscheidung auf eine Paartherapie – ein Entschluss, der sich als Wendepunkt in Rebeccas Leben entpuppt. Auf Empfehlung des Therapeuten nimmt sie ein Hilfsangebot für Menschen mit Essstörungen beim Diakonischen Beratungszentrum (DBZ) in Esslingen in Anspruch.

Nach der ersten Kontaktaufnahme verabreden sich Rebecca und Micaela Neumann, die Menschen mit gestörtem Essverhalten beim DBZ als Beraterin unterstützt, zeitnah zu einem gemeinsamen Termin. Tatsächlich abzunehmen ist dabei nur ein Teilziel, denn Rebecca wird schnell bewusst: Sie muss das Problem an der Wurzel packen, damit eine Diät langfristig Früchte tragen kann.

Mittlerweile haben sich die beiden zu insgesamt 13 Beratungsgesprächen getroffen – zunächst in kürzeren, dann in längeren Abständen von etwa sechs bis acht Wochen. „Statt nur darauf zu schauen, was und wie viel ich esse, betrachten wir den Kern des Ganzen – das Warum.“ So, erklärt sie, habe sie herausgefunden, dass sie aus sehr starken Gefühlen heraus gegessen habe, wie Trauer, Wut oder Freude. Gemeinsam mit Micaela Neumann arbeitet sie seitdem daran, einen Weg zu finden, um diesem Bedürfnis nicht mehr nachzugehen.

Die Beratung ist ein Erfolg

Heute geht es Rebecca deutlich besser. Ihren Gewichtsverlust betrachtet sie am Ende des Tages nicht als ihren größten Gewinn. Während sich Rebeccas Gedanken früher den ganzen Tag nur um Essen drehten, denkt sie heute kaum mehr daran. Auch ihr Selbstwertgefühl hat Rebecca im Laufe der Beratung wiedergefunden: „Am Anfang habe ich mich ganz schrecklich gefühlt. Inzwischen hat sich mein Selbstbild massiv verbessert.“ Früher habe sie sich eingeredet, wegen ihres Gewichts nicht ernstgenommen und bemitleidet zu werden; auch gewisse Klamotten habe sie aus Scham nicht getragen. Diese Gedanken hat sie heute nicht mehr. Vor allem aber hat sie gelernt: „Es ist nicht so wichtig, was auf der Waage steht. Ich bin, wer ich bin. Egal, was ich wiege.“

Anderen Betroffenen legt Rebecca ans Herz, den schwierigen ersten Schritt zu wagen und sich professionelle Hilfe zu suchen. Angehörigen und Freunden Betroffener rät sie, ein Gespräch anzubieten, es aber niemals aufzuzwingen. „Die größte Hilfe ist, zuzuhören und zu sagen: Ich bin da, wenn du mich brauchst!“