Der Kopf brummt, Arme und Beine sind schwer wie Blei und bei der kleinsten Anstrengung rast der Puls: Dieses Gefühl kennt jeder, der schon mal einen grippalen Infekt durchgestanden hat. Während die allermeisten Menschen nach spätestens zwei Wochen wieder fit sind, ist dieses Gefühl für Jennifer Wernhardt Alltag. Seit einer Corona-Infektion im März 2022 leidet die 28-jährige Kirchheimerin an ME/CFS, einer Multisystemerkrankung mit Chronic Fatigue Syndrom.
Wir treffen die junge Frau zum Gespräch im Aroma-Buchcafé in Kirchheim. Sie hat sich auf den Termin vorbereitet, hat Wochen vorab um Fragen gebeten, um nichts Wichtiges zu vergessen. Aus dem Nähkästchen zu plaudern, falle ihr aktuell nicht so leicht, sagt sie. „Brain Fog“, nennt man dieses Symptom. Viele Post-Covid und ME/CFS-Patienten klagen darüber, dass Wörter fehlen, das Gehirn wie vernebelt ist, klares Denken schwerfällt. Das Fauchen der Kaffeemaschine, die Gespräche der anderen Café-Gäste, die Hintergrundmusik – Reizüberflutung für die ehemalige Veranstaltungskauffrau, die man aus dem „Knights“-Büro kennt, die vor ihrer Erkrankung Büro und Basketball-Spiele organisierte, im Trubel einen kühlen Kopf behalten musste und in ihrer Freizeit im Mehrgenerationenhaus Linde aktiv war. „Für mich war es normal, fünf Sachen gleichzeitig zu machen“, sagt Wernhardt, die erschöpft wirkt, aber auch kämpferisch. Jetzt lautet die Devise: eins nach dem anderen. Sonst droht die gefürchtete Post-Exertional-Malaise (PEM), eine Verschlechterung der Symptomatik. Sie deutet auf ihre Fitness-Uhr: Beim Pressegespräch ist ihr Puls bei 116. Nach dem Gespräch wird sie sich erst mal hinlegen müssen.
Im März 2022 infiziert sich Jennifer Wernhardt, wie so viele Menschen, mit dem Corona-Virus. Während sie mit Grippesymptomen im Bett liegt, blühen draußen die ersten Bäume. Es ist der Frühling, in dem die Maskenpflicht in Supermärkten wegfällt, in dem die allermeisten Menschen nach langen Monaten der Abstandsregeln und Zugangsbeschränkungen endlich wieder ein bisschen Normalität erleben wollen.
Für Jennifer Wernhardt geht der Alptraum jetzt erst richtig los. Denn die Corona-Symptome, vor allem die Muskel- und Gliederschmerzen: Sie bleiben. „Als ich angefangen habe, wieder ein bisschen zu leben, sind immer mehr Symptome dazugekommen“, erinnert sich Wernhardt. Die Tage sind geprägt von Schmerzen und völliger Erschöpfung. „Vom Bett zur Toilette und wieder zurück, das war alles, was ging“, sagt sie. An Arbeiten oder Ehrenamt ist überhaupt nicht zu denken. „Eine Aufgabe am Tag habe ich geschafft“, sagt sie. Das funktioniert, weil Wernhardt nicht allein ist, sondern eine Wohnung mit ihrem Freund teilt. „Das war meine Rettung“, sagt sie im Rückblick.
Von Long-Covid spricht man, wenn die Symptome nach vier Wochen immer noch da sind oder wieder auftauchen, von Post-Covid, wenn das nach zwölf Wochen der Fall ist. In Jennifer Wernhardts Fall spricht man von ME/CFS, einer Myalgischen Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Für diese Multisystemerkrankung gibt es bislang keine zugelassene Behandlung oder Heilung. Wernhardt geht einmal wöchentlich ins Corona-Reha-Zentrum nach Esslingen zur Ergotherapie, was ihr enorm helfe, sagt sie. In Tübingen gibt es eine ambulante Sprechstunde, die sie zweimal besucht hat. „Der Arzt kann aber auch nicht mehr tun, als mir sagen, was ich habe, und ein paar Ratschläge geben“, sagt sie. Allerdings tut es auch schon gut, zu hören, dass sie sich ihre Krankheit nicht nur einbildet.
Wie viele Betroffene leidet Wernhardt darunter, dass ihre Erkrankung nicht ernst genommen wird. Vieles werde auf die „psychische Schiene“ geschoben, sagt sie. Dass ihr Antrag auf Berufsunfähigkeit, der seit November bei der Versicherung liegt, immer noch nicht durch ist, belastet sie. Was passiert, wenn er nicht anerkannt wird, darüber will sie lieber nicht nachdenken. Allein das Nachdenken darüber bedeutet mehr Stress, als ihr guttut. Auch den Kampf mit der Krankenkasse empfindet Wernhardt als zermürbend. „Wir müssen unglaublich viele Anträge ausfüllen. Das schaffen wir gar nicht alleine, sondern brauchen Unterstützung, weil der Kopf irgendwann ausschaltet“, sagt sie. Sie wünscht sich mehr gesellschaftliche Akzeptanz für Menschen mit ME/CFS – und mehr Forschung.
Solange es keine zugelassene Behandlung gibt, bleibt Wernhardt nichts anderes übrig, als mit ihrer Erkrankung zu leben. Im Vergleich zu den Monaten nach Corona hat die junge Frau riesige Fortschritte gemacht. Anders als viele andere Erkrankte hat sie eine Therapie, kann aus dem Haus und am Leben teilnehmen, auch wenn an Erwerbsarbeit nicht zu denken ist. Immer mal wieder hilft sie im Mehrgenerationenhaus Linde mit, nimmt an den offenen Donnerstagstreffs teil, die sie früher geleitet hat. „Das tut so gut“, sagt sie.
Ihre Fortschritte habe sie erzielt durch „kontrolliertes Handeln innerhalb meiner Belastungsgrenzen“, wie sie es ein bisschen technisch beschreibt. Praktisch bedeutet das: Jeden Morgen neu einschätzen, wie viel Energie vorhanden ist. Die Energie, die vorhanden ist, gut einteilen. Versuchen, dem Körper Energie zurückzugeben. Und lernen, Nein zu sagen. „Ich brauche Erholungsphasen vor einer Anstrengung und danach“, sagt Wernhardt. Das ist wichtig, um die Symptomverschlechterung zu vermeiden. Oder sich zu erholen, falls sie über ihre Grenzen gegangen ist. „Das einzuschätzen, gelingt immer besser“, sagt sie.
Als wertvoll empfindet Jennifer Wernhardt auch den Austausch mit anderen Betroffenen, der meistens online stattfindet. Auf Instagram postet sie unter dem Pseudonym @hey.i.am.jenny und lässt andere an ihrem Leben teilhaben. Sie ist dankbar für die Unterstützung, die sie durch ihre Eltern, ihren Bruder und den Freund erfährt. Und natürlich durch ihren Freundeskreis, der sie ablenkt und ein Umfeld bietet, das einmal nichts mit Krankheit zu tun hat.
„Manchmal bin ich ungeduldig, weil ich gerne mein altes Leben zurückhaben will“, sagt sie. „Man vermisst sich selbst.“ Ein komplettes Basketballspiel zu besuchen, was früher selbstverständlich für sie war, ist heute unmöglich. „Manchmal gehe ich für die letzte Minute rein, um kurz mitzuerleben, wie das ist“, sagt sie.
Was ist ME/CFS?
ME/CFS ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung. Erkrankte haben häufig eine sehr niedrige Lebensqualität. Ein Viertel aller Patienten kann das Haus nicht mehr verlassen, viele sind bettlägerig und schätzungsweise über 60 Prozent arbeitsunfähig. In Deutschland waren vor der Corona-Pandemie etwa 250 000 Menschen betroffen, darunter 40 000 Kinder. Weltweit sind es circa 17 Millionen.
ME/CFS-Erkrankte sind wenig belastbar und leiden unter einer ausgeprägten Zustandsverschlechterung ihrer Symptome nach geringer körperlicher und geistiger Anstrengung. Dazu gehören eine schwere Fatigue, kognitive Störungen, ausgeprägte Schmerzen, eine Überempfindlichkeit auf Sinnesreize und eine Störung des Immunsystems sowie des autonomen Nervensystems.
Häufig beginnt ME/CFS nach einer Infektionskrankheit. Das Epstein-Barr-Virus und die Influenza sind als Auslöser bekannt. Nach der Corona-Pandemie entwickelte ein Teil der Long-Covid-Betroffenen ME/CFS. Daher wird mit einer deutlichen Zunahme Erkrankter gerechnet. Die genauen Mechanismen der Erkrankung sind bisher noch ungeklärt. Neuere Studien weisen auf eine mögliche Autoimmunerkrankung und eine schwere Störung des Energiestoffwechsels hin.
Bisher gibt es keine zugelassene Behandlung. Eine Aktivierungstherapie, wie sie häufig von Ärzten oder in Rehas verschrieben wird, gilt als kontraproduktiv und schädlich. Im Gegenteil sei es für Betroffene wichtig, innerhalb der eigenen Belastungsgrenzen zu bleiben, heißt es auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS. Mehr Informationen gibt es auf www.mecfs.de. adö