Kirchheim
Wie ein Kirchheimer die Ukraine-Krise in den USA erlebt

Krieg  Stefan Köberle ist in Kirchheim aufgewachsen und lebt in Washington. Seiner Meinung nach hat in Amerika bereits am 11. September 2001 eine neue Zeitrechnung begonnen.Von Irene Strifler

Kirchheim/Washington Die Deutschen sind am ersten Tag des Ukraine- Krieges „in einer anderen Welt aufgewacht“. So hat Außenministerin Annalena Baerbock am 24. Februar den Schock nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine formuliert. Stefan Köberle kann das nachvollziehen. Er denkt an den 11. September 2001, den Terrorangriff aufs World Trade Center, den er selbst in Washington DC erlebt hat. Der ehemalige Kirchheimer arbeitet dort bei der Weltbank.

 

„Weil wir im Frieden
aufgewachsen sind,
dachten wir immer,
das sei der Normalzustand.
Stefan Köberle zum Lebensgefühl der Babyboomer
im Deutschland der 70er und 80er Jahre

 

„Das war ein Erdbeben für Amerika“, erinnert er sich, wie plötzlich die Illusion einer heilen Welt zusammenbrach.

In ähnlicher Weise beobachtet er jetzt das Umdenken in seiner alten Heimat, in der die Hoffnung verflogen ist, durch enge wirtschaftliche Verflechtungen mit Russland das Risiko eines Konflikts zu verringern. Damit verbunden ist auch eine Neubewertung der Wehrhaftigkeit der westlichen Demokratien. „Die Geschichte zeige, dass „Wandel durch Handel” nicht ausreicht, um die Aggression autoritärer Regime einzudämmen.“ Für ihn persönlich ist der Überfall auf die Ukraine der – vorläufige – Höhepunkt einer Reihe brutaler Aggressionen von russischer Seite.

Für die Nordstream-2-Gaspipeline und den geringen Verteidigungsetat der Deutschen hatte man jenseits des großen Teiches nie Verständnis. Unter der Präsidentschaft von Donald Trump, der sich offen von der Nato distanzierte, wuchs die Entfremdung zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland weiter zusehends.

„Mit dem Motto ‚America first‘ hat Trump viele Amerikaner für sich eingenommen“, erläutert der Kirchheimer. Auch wenn mit Joe Biden wieder einer aus der alten Riege der atlantisch orientierten Staatsmänner ans Ruder kam, war doch der überhastete Abzug aus Afghanistan ein Tiefpunkt in der Außendarstellung des Westens, der wohl auch in Moskau als Schwäche interpretiert wurde.

Ironie des Schicksals: „Die Entwicklung gibt Trump in einem Punkt nachträglich recht, nämlich mit seinem Vorwurf, Deutschland investiere viel zu wenig in seine Verteidigung“, resümiert Stefan Köberle und beobachtet den Kurswechsel der Bundesregierung in den letzten Wochen mit Interesse. Schließlich ist auch er in einer Zeit aufgewachsen, die vom Kampf gegen das Wettrüsten und den Kalten Krieg geprägt war. Wie viele andere demonstrierte er in den 80er-Jahren in Mutlangen gegen die Stationierung von Pershing-Raketen und glaubte an ein Ende militärischer Großmannssucht. Mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien die Teilung der Welt in rivalisierende militärische Blöcke vollends überwunden und die marktwirtschaftlich orientierte liberale Demokratie weltweit auf dem Vormarsch zu sein.

Doch die Globalisierung schafft auch Ungleichgewicht und Unzufriedenheit. „Spätestens mit der Coronakrise wurde klar, dass nicht alle an repräsentative Demokratie, Meinungsvielfalt und Wettstreit der Ideen glauben”, meint Köberle nachdenklich. Er erlebt die Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft hautnah und gibt zu bedenken, wie gefährdet die Institutionen der US-Demokratie waren – trotz der stolzen über 230-jährigen Verfassungstradition. Demonstrationen gegen rassistische Übergriffe der Polizei wurden von der Trump-Regierung mit martialischen Aufgeboten von Bundespolizisten bedrängt und endeten zum Teil gewalttätig. „In der Innenstadt von Washington waren die Geschäfte verbarrikadiert, Scheiben wurden eingeschlagen und das Weiße Haus war von einem hohen Schutzzaun und Uniformierten umgeben.” Die Spannungen gipfelten nach der von Trump verlorenen Wahl am 6. Januar 2021 mit dem Sturm seiner Anhänger aufs Kapitol, ein bis dahin in seiner Beispiellosigkeit einzigartiger Angriff auf die Säulen der amerikanischen Demokratie.

„Glücklicherweise hat sich die Lage seither wieder beruhigt, obwohl die politischen Spannungen zwischen den eher liberal gesinnten Großstädten und der eher konservativen Landbevölkerung weiterbestehen”, sagt Köberle. Mit einem Blick auf die vertrauten Gemäuer seiner alten Heimatsstadt erinnert er sich an seinen Geschichtskurs, in dem er und seine Mitschüler das Ende des Zweiten Weltkrieges, die Besatzung der Amerikaner und damit auch die Befreiung vom nationalsozialistischen Regime in Kirchheim erforscht hatten. „Das schien uns damals alles sehr weit weg in der dunklen Vergangenheit zu liegen. Weil wir im Frieden aufgewachsen sind, dachten wir immer, das sei der Normalzustand.“

Vita

Dr. Stefan Köberle wurde 1965 in Kirchheim geboren und wuchs hier auf. Im Jahr 1984 legte er das Abitur am Ludwig-Uhland-Gymnasium ab, studierte anschließend Volkswirtschaft in London und Cambridge, besuchte das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik in Berlin und promovierte über Strukturanpassung in Venezuela.
Amerika ist seit 1993 sein Zuhause, als er in den Dienst der Weltbank trat. Er ist mit einer Inderin verheiratet und lebt überwiegend in Washington.