Kirchheim
Wie Hildegard im Mittelalter ihre Frau steht

Zeitreise In seinem historischen Roman „Die Heilerin vom Rhein“ erzählt Jørn Precht von der Gründung eines eigenen Frauenklosters auf dem Rupertsberg. Von Andreas Volz

Hildegard von Bingen: Fast sein halbes Leben lang beschäftigt sich Jørn Precht schon mit der „Heilerin vom Rhein“, über die er jetzt im Frühsommer einen Roman veröffentlichen konnte. Die erste Begegnung mit Hildegard bleibt ihm bis heute unvergessen: „Das war 1996 bei einem Besuch in Hamburg. In dem WG-Zimmer, in dem ich übernachtet habe, stand ein CD-Spieler. Ich habe auf Play gedrückt und war völlig überwältigt von dem, was ich gehört habe.“ Es war Musik Hildegards, die stark an Gregorianik erinnert, ohne aber Gregorianik zu sein.

Die Musik spielt auch im Roman eine Rolle – neben vielen anderen Themen, für die Hildegard von Bingen bis heute berühmt ist. Da sind vor allem ihre Visionen, über die sie nach langem Zögern geschrieben hat und die sie in den Rang einer Mystikerin erheben. „Vom heutigen wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, lassen sich diese Visionen wohl vor allem durch Migräneattacken erklären“, sagt der Autor, der diese ernüchternde Analyse aber nicht im Roman verarbeiten konnte.
 

Kräuter als Heilmittel

Der Roman spielt im Mittelalter, im 11. Jahrhundert. Medizin war damals schon wichtig, aber weit entfernt von der modernen Medizin. Hildegard hat Kräuter gesammelt und als Heilmittel verwendet. Sie hat auch über die Wirkung der Kräuter geschrieben – was sie heutzutage sehr populär macht. Aber moderne wissenschaftliche Zusammenhänge zwischen Kräuterbestandteilen und ihrem Nutzen als Arznei konnte sie natürlich noch nicht kennen. 

Erst recht konnte die eigentliche Hauptfigur des Romans nichts darüber wissen: Elisabeth, die sich im Lauf des Geschehens von einem jungen, wissbegierigen Mädchen – das gemeinsam mit seiner Mutter Unterschlupf im Kloster findet – zur Miniaturmalerin und „Cellarerin“ hocharbeitet. Als Leiterin des klösterlichen Wirtschaftsbetriebs hat sie einen der wichtigsten Posten und kommt in weltlichen Belangen gleich nach der Äbtissin.

Mit Elisabeth ist dem Autor, der in Notzingen aufgewachsen ist und als Professor an der Hochschule der Medien Stuttgart „Transmediales Storytelling“ lehrt, ein wichtiger Kunstgriff gelungen: Er kann aus ihrer Perspektive berichten, die oft der Perspektive der Leserschaft entspricht. Elisabeth beobachtet das Geschehen, ohne direkt daran beteiligt zu sein, und zieht ihre eigenen Rückschlüsse daraus.

Somit kann Jørn Precht Ereignisse kommentieren, die nicht allesamt historisch verbürgt sein müssen. Natürlich könnte sich alles so zugetragen haben, wie es der Roman schildert. Das enge Verhältnis zwischen Hildegard und ihrer Lieblingsschülerin Richardis von Stade ist verbürgt: „Hildegards Kampf um Richardis – darum, dass sie bei ihr im Kloster bleiben sollte – ist schriftlich belegt, anhand vieler Briefe.“ Dass sich die beiden Nonnen auch körperlich näher gekommen sein könnten, deutet der Roman eher dezent an, denn hier gilt, mit dem Abstand von bald tausend Jahren: Nichts Genaues weiß man nicht.

Was immer wieder zur Sprache kommt, ist die Ungleichbehandlung der Nonnen, denen lange kein eigenes Kloster zugestanden wird. Nicht einmal die Gaben, die ihre Familien stiften, können die Nonnen selbst verwalten: Der Abt des Männerklosters lässt sich die Verfügungsgewalt über die Stiftungen nicht entgehen. Selbst Bildung in Form von Büchern wird den Frauen in der Romanhandlung vorenthalten. Singen dürfen sie nicht, und auch das Heilen durch pflanzliche Mittel ist streng untersagt. Erst auf dem Rupertsberg ändert sich das.

Im Schatten der Lehrmeisterin

Für wichtig hält Jørn Precht auch Hildegards moderate Einstellung zur Askese, also zum Fasten und zu Selbstkasteiungen, wie es ihre Lehrmeisterin Jutta von Sponheim übertrieben exerziert. Obwohl Jutta schon zu Beginn der Romanhandlung stirbt, schwebt ihr Schatten beständig über Hildegard. Erst ganz am Ende befreit sich Hildegard in einem symbolischen Akt: indem sie Juttas Ring den Fluten des Rheins übergibt.

Fertig erzählt ist die Geschichte noch nicht, findet Jørn Precht. Er würde gerne einen zweiten Teil folgen lassen. Dann käme Hildegard auf dem Weg nach Zwiefalten sogar im mittelalterlichen Kirchheim vorbei. Die Fortsetzung könnte sich rechnen. Immerhin ist der erste Band der bislang erfolgreichste Hildegard-Roman seiner Art. Schon bald soll es einen Übergang zwischen beiden Teilen geben: Ende September erscheint im Piper-Verlag ein Sonderband der Reihe „Bedeutende Frauen, die die Welt verändern“, zu der auch Jørn Prechts Hildegard-Roman gehört. Hinter dem Titel „Weihnachtsduft und Erfindergeist“ verbergen sich 24 adventliche Geschichten. Eine davon hat stammt aus der Feder Jørn Prechts und erzählt von Weihnachten, wie Hildegard es erlebt haben könnte.