Kirchheim
„Wie kann man nur so kaltblütig sein?“

Krieg   Die Hochdorferin Kristina Stivadoros berichtet aus der Ukraine. Die Menschen würden gerne in ihrem Heimatland bleiben, sehen sich aber zur Flucht vor der heranrückenden russischen Armee gezwungen.  Von Andreas Volz

Kristina Stivadoros ist aufgewühlt. Seit Donnerstag, 4.30 Uhr, hat sie kaum geschlafen. Die Sorge um ihre Familie hält sie wach. Trotzdem kann sie nur zusehen und zuhören, wenn Nachrichten aus der ukrainischen Heimat sie in Hochdorf erreichen. Sie kann nur hoffen und bangen – wobei sich das mit dem
 

Mein Herz blutet, ich bin wie gelähmt.
Kristina Stivadoros
fürchtet um ihre ukrainische Heimat

Hoffen schon beinahe erledigt hat: „Bis zuletzt haben wirgehofft, dass das nicht wahr ist, dass Putin es nicht wagen würde, das zu tun.“ Am Donnerstag sind aber alle Befürchtungen zur schrecklichen Gewissheit geworden: „Zuerst haben sie die ganze ukrainische Luftabwehr ausgeschaltet. Dann wurden viele Städte gleichzeitig angegriffen. Und jetzt haben sie angefangen, die Krankenhäuser lahmzulegen. Ich kann nicht begreifen, wie man so kaltblütig handeln kann.“

Viele Menschen sind auf der Flucht. „Meine ganze Familie ist noch im Land“, berichtet Kristina Stivadoros. Aber teilweise flüchtet die Familie bereits. Die einen sind in Richtung Karpaten unterwegs, die anderen Richtung Westen. „Meine Mutter ist seit Donnerstagnachmittag an der polnischen Grenze. Sie will zu mir und meinem Mann kommen. Wir haben Platz für sie. Aber dort an der Grenze geht alles viel zu langsam. Es staut sich – wie an den Ausfallstraßen in Kiew.“

Eine 16 Jahre alte Nichte ist mit einem der letzten Flüge nach München gelangt. Sie ist jetzt bei Kristina und Marcus Stivadoros in Hochdorf angekommen. Freunde von ihr harren in Kiew in U-Bahn-Stationen aus. Die U-Bahn dient als eine Art Luftschutzkeller. Ähnliches kennt man aus dem Zweiten Weltkrieg, aus London.

Kristina Stivadoros kann es nicht fassen, dass im 21. Jahrhundert in Europa wieder solche Zustände herrschen: „Mein Herz blutet, ich bin wie gelähmt. Das alles ist wie ein schrecklicher Traum. Die Ukrainer sind dieser Situation ausgeliefert.“ Putin gehe es nur um seine Macht-Ambitionen: „Die Ukrainer sind friedliebend. Sie haben sich nach Demokratie gesehnt und sich in Richtung EU bewegt.“ Deswegen ist sich Kristina Stivadoros auch sicher, dass der Kreml-Chef noch weitere Angriffsziele finden wird: „Die Frage ist, welches Land in Europa als nächstes drankommt.“

„Die ganze Welt schaut zu“

Was sie schockiert: „Europa schaut zu. Die Sanktionen sind in Russland kaum zu spüren. Die Oligarchen lachen nur darüber. Die ganze Welt schaut zu, wie in der Ukraine eine Nation ausgerottet werden soll.“ Am Donnerstag um 16 Uhr wollten die Vereinten Nationen tagen, um über das weitere Vorgehen zu beraten, sagte Kristina Stivadoros im Vorfeld und fügte hinzu: „Bis die Sitzung beginnt, ist vielleicht schon die gesamte Ukraine in russischer Hand.“

Die Hochdorferin, die seit über 20 Jahren in Deutschland lebt und zunächst im Rahmen eines Austauschprogramms während ihres Deutsch-Studiums nach Kassel gekommen war, spricht von unterschiedlichen Ansichten in Russland: „Viele glauben der staatlichen Propaganda. Es gibt aber auch Menschen in Russland, die für den Frieden demonstrieren. Nur löst die Polizei diese Demonstrationen schnell auf und nimmt die Teilnehmer fest. Die Leute haben also Angst, für den Frieden auf die Straße zu gehen.“ Sie selbst hat eine Freundin, die der Propaganda glaubt: „Die sagt, Putin gehe es nur um die Regionen im Osten der Ukraine. Er wolle der russischstämmigen Bevölkerung dort helfen.“

Die Ukrainer glauben diese Geschichten von Anfang an nicht. Sie wollen ihr Land nicht aufgeben: „Was fällt Putin ein, für uns entscheiden zu wollen? Die russischen Soldaten sind auf unserem Boden.“ Kristina Stivadoros, die aus der Großstadt Schytomyr stammt, 120 Kilometer westlich von Kiew gelegen, zitiert mit diesen Worten ihre Schwester. Sie berichtet weiter: „Die Leute wollen bleiben bis zuletzt. Am Ende werden sie aber fliehen müssen. Meine Schwester sagt, unter russischer Herrschaft will sie nicht in der Ukraine leben.“