Wichtig ist der Blickpunkt: Bei den geometrischen Werken, die Felice Varini in Innen- wie in Außenräumen installiert, gibt es immer genau einen Standpunkt, von dem aus sich der Sinn erschließt. Es ist nicht unbedingt ein tieferer Sinn, denn wie er selbst sagt, will er keine Geschichte erzählen. Er spielt viel lieber – mit der Architektur, die er vorfindet, und mit den abstrakten Formen, die er darauf projiziert und anschließend mit einem speziellen Material an Wand- oder Dachflächen fixiert.
Seit drei Wochen ist seine aktuelle Installation „Douze Points pour Six Droites“ – „Zwölf Punkt für Sechs Geraden“ – in Kirchheim zu sehen. Am Samstag, 15. Oktober, um 17 Uhr wird die Ausstellung feierlich eröffnet. Am Abend zuvor ist der Künstler, der vor 70 Jahren in Locarno geboren wurde und seit rund 40 Jahren in Paris lebt, im Vorfeld der Vernissage wieder in Kirchheim eingetroffen und zeigte sich „sehr zufrieden“ mit dem sternenförmig strahlenden Ergebnis seiner Arbeit, wie es sich auf zahlreichen Dächern und Wänden in der Max-Eyth- und in der Marktstraße präsentiert.
Den richtigen Standpunkt will er nie exakt kennzeichnen. Es ist ihm wichtig, dass alle diesen Punkt von selbst finden. Zugleich betont er: „Es gibt ja viele andere Blickpunkte, von denen aus man das Werk betrachten kann.“ Tatsächlich wäre es falsch, sich bei der Betrachtung mit dem einen Punkt zu begnügen, von dem aus alle sechs Geraden wirklich „gerade“ sind.
Alle Standpunkte sind wichtig
Wie sich von dem einen Punkt aus alles sinnvoll zusammenfügt, zeigt sich gerade dann, wenn man andere Standpunkte eingenommen hat. Von allen anderen Punkten aus kann man zwar erkennen, dass es eine Ordnung geben muss. Aber es ist nicht klar, welche Ordnung das sein soll. Da stehen Linien senkrecht zueinander, obwohl sie aus der „richtigen“ Perspektive schnurgerade aneinanderpassen.
Wenn er denn doch etwas „erzählen“ soll mit seinen Werken, dann beschreibt Felice Varini den „richtigen“ Blickpunkt als sein „Alphabet“. Das ist sein Ausgangspunkt, wie es eben auch die Buchstaben für den Romanschriftsteller sind. Die unzähligen anderen Perspektiven, aus denen man seine sternförmig angeordneten Geraden betrachten kann, sind für ihn „die Seiten des Romans“. Erst dadurch entsteht also die Kunst. Das Alphabet allein ist lediglich die Grundvoraussetzung.
In Kirchheim hat er „eine Verbindung zur Architektur, zur Straße, zum Licht“ hergestellt. Rein optisch verlaufen die „Sechs Geraden“ in einer Ost-West-Achse, vom rechten „point de vue“ aus betrachtet. Tatsächlich ergeben sich aber auch viele Teilstrecken, die de facto in Nord-Süd-Richtung angeordnet sind. Felice Varini arbeitet sehr gerne mit den unterschiedlichen architektonischen Formen aus unterschiedlichen Epochen: „Gotik, Barock – alles Mögliche“. In Kirchheim haben es ihm besonders die Fachwerkhäuser angetan: „Das ist das erste Mal, dass ich mit so einem typischen Ensemble arbeite. Durch das Fachwerk habe ich keine weiße Seite als Untergrund.“
Als Kuratoren der Kirchheimer Installation fungieren Susanne Jakob und Florian van het Hekke. Letzterer hat die Verbindung zu Felice Varini hergestellt. Nach längerem Hin und Her und einem Besuch des Künstlers in Kirchheim wurde das Projekt konkret. Besonders beeindruckt ist Florian van het Hekke von der Ausführung der Arbeiten: „Da musste es nachts wirklich stockdunkel sein, um die Geraden durch einen riesigen Projektor vorgeben zu können.“ Gearbeitet wurde mit Hubsteigern, die Felice Varini immer mit dem korrekten englischen Wort als „cherry pickers“ bezeichnet hat, also als „Kirschenpflücker“. Am Rathaus kam sogar ein Kletterteam zum Einsatz, das die Klebestreifen frei schwebend an den passenden Stellen angebracht hat.
Kunst und Mathematik
Diese passenden Stellen sind „ganz genau berechnet“, berichtet Susanne Jakob: „Wie Leonardo da Vinci ist auch Felice Varini ein Künstler, der sehr in der Mathematik bewandert ist.“ Auch deshalb höre sich der Titel seiner Installation wie eine mathematische Aufgabe an. Exakt drei Monate bleibt das temporäre Kunstwerk in Kirchheim bestehen. Am 15. Januar 2023 ist Schluss. So viel steht fest, auch wenn es heute erst einmal offiziell beginnt.
Varinis bisherige Arbeiten in Deutschland
– und aktuell in Kirchheim
Zum dritten Mal präsentiert Felice Varini nun in Deutschland eine Arbeit im Außenbereich: Erstmals war er 2004/2005 an der niedersächsischen Nordseeküste aktiv. Südlich von Otterndorf hat er die Fassade der Burg Bederkesa unter dem programmatischen Titel „point of view“ („Blickpunkt“) optisch verfremdet. 2017 war er in Osnabrück mit der Installation „Vier blaue Kreise“ präsent.
Dauerhaft sichtbar ist die Installation in Osnabrück versehentlich geblieben: Auf dem Kirchendach kam es durch das Material des temporären Kunstwerks zu Oxidationen, die auch nach dem Abbau sichtbar sind.
Die Aluminiumbänder in Kirchheim sollen sich aber anders verhalten, sagt Kuratorin Susanne Jakob. Erstens verfügt die Spezialanfertigung über einen geeigneten Unterschutz. Und zweitens besteht der Untergrund in Kirchheim vor allem aus Dachziegeln, Stein, Holz und Putz. Metall gibt es an einem Laternenmast, der die Lücke füllt, die auf der Wand des Kornhauses zu sehen ist.
Kulturamtsleiter Frank Bauer freut sich, dass es gelungen ist, alle Hauseigentümer mit ins Boot zu holen – gerade auch unter der Befürchtung, dass sich die Installation hinterher nicht wieder restlos entfernen lassen könnte. Die Frage „Ist das Kunst, oder kann das weg?“ sollte sich im konkreten Fall gar nicht stellen: Susanne Jakob spricht bislang von „großer positiver Resonanz“. Natürlich bleibe auch Kritik nicht aus. Das ist das Wesen der Kunst: dass sie einerseits begeistern und andererseits verstören kann. vol