Wie gelingt es der Schule, mit dem Wandel der Zeit Schritt zu halten? Um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, waren am Dienstagabend viele Dutzend Interessierte in die Martinskirche geströmt. Dort hatte die Buchhandlung Zimmermann in Zusammenarbeit mit dem städtischen Gesamtelternbeirat und der evangelischen Gesamtkirchengemeinde eine Podiumsdiskussion ins Leben gerufen.
Die Schulen brauchen mehr Autonomie.
Prof. Dr. Albrecht Wacker, Pädagoge
Um verschiedenen Perspektiven eine Stimme zu geben, hatte man ein vielfältiges Aufgebot an Gästen einbestellt: Vor dem Altar der prallgefüllten Kirche saß der Pädagoge Prof. Dr. Albrecht Wacker, die Vorsitzende des Gesamtelternbeirats Stefanie Rau, der ehemalige Schulleiter und Spiegel-Bestseller-Autor Stefan Ruppaner, die Schülerin Serena von der Freihof-Realschule und die Staatssekretärin des Kultusministeriums Sandra Boser. Sie vertrat Kultusministerin Theresa Schopper, die sich aus gesundheitlichen Gründen entschuldigen ließ. Die Rolle des Moderators übernahm der Schulleiter der Freihof-Realschule Marlon Lamour.

Die Gesellschaft hat in den letzten Jahrzehnten einen enormen Wandel durchlaufen: politische, kulturelle, technologische, aber auch ökologische Umbrüche haben die Rahmenbedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, langfristig verändert. Daran muss sich das Schulsystem anpassen – das betonten sowohl Sandra Boser als auch Albrecht Wacker im Rahmen ihrer Impulsvorträge zum Veranstaltungsauftakt.
Der Fortschritt hinkt
Eines der Themen, die an diesem Abend für Gesprächsstoff sorgten, war die Digitalisierung der Schulen. In der Frage, ob iPads & Co. im Klassenzimmer überhaupt etwas verloren haben, gehen die Meinungen in der Gesamtbevölkerungen laut Sandra Boser noch immer stark auseinander.
KI ist bei uns in der Klasse ein großes Thema.
Serena, Schülerin an der Freihof-Realschule
Für Stefanie Rau ist ganz klar, dass digitale Geräte, die aus der Lebenswelt der Kinder nun einmal nicht mehr wegzudenken sind, auch in der Schule Einzug erhalten müssen, und zwar in Form von identischer Hard- und Software für alle. „Einen Zahn zulegen“ muss die Pädagogik in den Augen der Gesamtelternbeiratsvorsitzenden vor allem beim Vermitteln von KI-Kompetenz.
Das sieht die Schülerin Serena genauso: „KI ist bei uns in der Klasse ein großes Thema“, berichtete die Teenagerin. ChatGPT und andere Tools würden in der Freizeit der Jugendlichen eine wachsende Rolle spielen und auch gerne mal zum Erledigen der Hausaufgaben genutzt werden. Wirklich geschult werde man im Umgang mit den Programmen allerdings nicht.
„Die Phase mit generativer KI ist sehr abrupt gekommen“, meinte Albrecht Wacker. Es werde in der Lehrerbildung trotzdem bereits sehr viel getan. Das berichtete auch Sandra Boser. Dass der technische Fortschritt in den Schulen noch nicht so richtig angekommen ist, liegt ihr zufolge nicht an der Ausstattung oder fehlenden Weiterbildungsmöglichkeiten. Die Technik sei da, ebenso Unterstützungsangebote in Form von Fortbildungen und KI-Tools. Das Problem, so die Staatssekretärin, sei, dass der Großteil der Lehrkräfte diese nicht nutze. „Das macht mir Sorge.“
Zwischen Freiraum und Struktur
Ein grundsätzliches Problem sieht Albrecht Wacker im Schubladendenken, das im Kontext der drei Schulformen zu beobachten ist. Der Wissenschaftlicher erläuterte, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Schulen – aufgrund deren individueller Lage, Schülerkomposition und Lehrerschaft – größer seien als zwischen den Schulformen. Er schlussfolgerte: „Die Schulen brauchen mehr Autonomie.“
Um ein Kind zu erziehen, brauchen wir ein ganzes Dorf. Im Moment sperren wir das Dorf aber aus.
Stefan Ruppaner, ehemaliger Schulleiter und Autor
Das Thema Eigenverantwortung kam auch auf der Ebene der Schüler zu Sprache. „Ich denke, das müsste in der Schule eine viel größere Rolle spielen“, äußerte Serena dazu. Fördern lässt sich die Selbstorganisation der Schüler laut Albrecht Wacker zum Beispiel durch autonomes Arbeiten und das Übertragen von Verantwortung. Er gab jedoch zu bedenken, dass sich manche Kinder damit schwerer tun als andere. Die Schulen müssten daher beides bieten: Freiraum, aber, wo nötig, auch Struktur.
Das Klassenzimmer als Wohlfühlort
Stefan Ruppaner hat derweil einen ganz anderen Ansatz: An der Alemannenschule Wutöschingen, an der er bis 2024 als Schulleiter tätig war, hat er ein unkonventionelles System etabliert. Statt Unterricht – oder wie er es nennt: Gefängnis – setzt man dort auf gemeinsame Projekte und selbstbestimmtes, freiwilliges, kompetenzspezifisches Lernen. Aus Lehrern werden „Lernbegleiter“, aus Schülern „Lernpartner“. Drinnen tragen alle Hausschuhe.
Ziel des Ganzen sei, die Schule in einen Wohlfühlort zu verwandeln, an dem die Kinder Liebe erfahren und gerne lernen. Diese Bemühungen scheinen sich auszuzahlen: Das erste Abitur an der Schule fiel mit einem Schnitt von 1,7 fast 0,5 Notenpunkte besser als der Landesdurchschnitt.
Dass sich dieses System auf ganz Baden-Württemberg ausweiten lässt, bezweifelt Stefan Ruppaner. Nicht, weil es praktisch nicht möglich sei, sondern „weil der politische Wille dazu fehlt“.
Es kann nicht alles in diesen Jahren zusammengeballt sein.
Prof. Dr. Albrecht Wacker, Pädagoge
Im Zuge der Diskussion fielen noch zahlreiche weitere Impulse und Vorstellungen von der Zukunft der Schule. So wünscht sich Stefanie Rau mitunter eine Priorisierung der Schulen – auch finanziell – und vor allem schnellere Veränderungen. Serena hofft derweil auf „zeitgemäßere“ Schulgebäude und darauf, dass die Lerninhalte mehr an die Lebensrealität der Schülerschaft angepasst werden.
Albrecht Wacker pocht auf einen strukturellen Umschwung weg von den drei Schularten und hin zu einem System, „das mit Heterogenität umgehen kann“. Und auf Sandra Bosers Agenda stehen unter anderem die Einrichtung von zweckmäßigen Schulräumen, individualisiertere Lernwege und eine bessere Zusammenarbeit innerhalb der Schulgemeinschaft. Aber vor allem, so Boser, müsse man der Jugend signalisieren: „Ihr seid die Zukunft, und wir tun alles dafür, dass diese Zukunft am Ende funktioniert!“
Was das Publikum wissen wollte
In der anschließenden Fragerunde konnten sich die Zuschauerinnen und Zuschauer, darunter auch Oberbürgermeister Pascal Bader und die Landtagsabgeordneten Andreas Schwarz (Grüne), Andreas Kenner (SPD) und Natalie Pfau-Weller (CDU), mit ihren Fragen an die Gäste richten.
So wollte eine Frau aus dem Publikum wissen, wo Soft Skills, wie Empathie, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit, einen Platz im Bildungsplan haben. „Eine sehr wichtige Frage“, schätzte Albrecht Wacker. Er erläuterte, dass die Schule derartige Kompetenzen immer stärker im Blick habe und auch vermittle – etwa durch Projekte oder Coachings. Der Wissenschaftler warf an dieser Stelle jedoch die Frage in den Raum, ob man beim Schulabschluss denn schon alle Fähigkeiten innehaben müsse? Für Jugendliche würden in diesen Jahren andere Dinge, wie Identitätsfindung, Entwicklungsaufgaben und Gruppenzugehörigkeit in den Vordergrund treten. „Es kann nicht alles in diesen Jahren zusammengeballt sein.“
Ohne diese multiprofessionellen Teams geht es gar nicht.
Stefan Ruppaner
Auch Andreas Schwarz richtete sich mit einer Frage an die Gäste: Er erkundigte sich nach der Meinung der Sprecherinnen und Sprecher zu multiprofessionellen Teams an Schulen, die das Lehrpersonal ergänzen. Stefan Ruppaner verwies in seiner Antwort auf seine ehemalige Schule. Dort habe sich eine Gruppe von rund 50 externen Freiwilligen etabliert, die mit den Kindern lernen oder Projekte mit ihnen durchführen würden. „Ohne diese multiprofessionellen Teams geht es gar nicht“, stellte der Pädagoge klar. „Um ein Kind zu erziehen, brauchen wir ein ganzes Dorf. Im Moment sperren wir das Dorf aber aus.“
Nach einigen weiteren Fragen und Wünschen aus dem Publikum setzte Marlon Lamour mit Blick auf die Uhr schließlich den Schlusspunkt. Sibylle Mockler von der Buchhandlung Zimmermann bedankte sich bei allen Beteiligten für den gelungenen Abend und lud die Anwesenden herzlich dazu ein, die Diskussion bei Häppchen und Getränken weiterzuführen.

