Kirchheim
Wie Ali und Nahed Mansour nach Kirchheim kamen

Migration Der Bürgerkrieg in Syrien hat Ali und Nahed Mansour plötzlich zu Flüchtlingen gemacht. Heute profitieren der Kirchheimer Integrationsrat und interkulturelle Projekte von ihrer Kompetenz. Von Florian Stegmaier

Ali und Nahed Mansour wollen ihre Erfahrungen und ihr Wissen in Deutschland einbringen. Foto: Florian Stegmaier

Es war, als würde meine Seele den Körper verlassen“ – starke Emotionen bewegen Ali Mansour, wenn er von der Flucht aus seiner Heimat erzählt. Den Moment des Aufbruchs schildert er mit einem todesähnlichen Bild. Denn vieles, was das Leben ausmacht, musste er in Syrien zurücklassen: „Heimat heißt so viel“, sagt er nachdenklich, „Eltern, Geschwister, Freunde, aber auch die vertraute Landschaft.“ Längst ist Kirchheim für ihn, seine Frau Nahed und die drei Kinder zur neuen Heimat geworden. Doch die traumatischen Erinnerungen an den Bürgerkrieg in Syrien wiegt das nicht auf. Von einer Stunde auf die andere wurde die junge Familie zu Flüchtlingen im eigenen Land. „Es war der Beginn des Fastenmonats Ramadan“, erinnert sich Nahed an den Tag, der ihr gewohntes Leben in Aleppo aus den Angeln hob: „Morgens haben wir noch ganz normal gearbeitet.“ Dann kommen die Rebellen, die Gewalt eskaliert. Mit kleinem Gepäck finden Mansours Zuflucht in einem anderen Stadtteil: „Wir dachten, wir gehen nur für eine Woche. Aber wir sind nie wieder in unsere Wohnung zurückgekehrt.“ Ganz Aleppo versinkt im Krieg. Die Familie rettet sich ins nahegelegene Idlib.

Acht Stunden für 40 Kilometer

Alle zwei Wochen muss Ali zurück, um seine Arbeitserlaubnis zu verlängern. Unter normalen Umständen eine Fahrt von 40 Kilometern. Doch nun herrscht Lebensgefahr. Militärposten führen scharfe Kontrollen durch. „Für eine Fahrt habe ich acht Stunden gebraucht“, sagt Ali. Stets musste er fürchten, entführt oder in Gefechte verwickelt zu werden. Als Mathematiklehrerin war Nahed ständig gezwungen, Schulen zu wechseln, wenn staatliche Einrichtungen in Hände der Rebellen fielen. Der Bombardierung eines Schulgebäudes konnte sie nur knapp entkommen. „Heute ist es unvorstellbar, was wir damals erlebt haben“, sagt sie. Den Eheleuten stellt sich die Frage nach der Zukunft ihrer Kinder: Sollen sie im Bürgerkrieg aufwachsen? Nein, beschließen sie. Sie wollen in ein sicheres Land fliehen, bis der Krieg vorüber ist. Länger als zwei oder drei Jahre kann die Gewalt ja nicht anhalten. So dachten damals viele. Auf sich allein gestellt, bricht Ali 2015 Richtung Europa auf. Im überfüllten Schlauchboot kommt er an der griechischen Küste an. Sein Weg führt über die „Balkanroute“. Mal per Auto oder Zug, dann wieder zu Fuß. Eine Belastungsprobe auch für seine in Syrien verbliebene Frau: „Einmal habe ich zehn Tage nichts von Ali gehört“, erzählt Nahed, „und in den Nachrichten war von ertrunkenen Flüchtlingen die Rede. Das war schrecklich.“

Ehrgeizige Eheleute

Im August 2015 kommt er in Deutschland an, ein dreiviertel Jahr später kann die Familie nachziehen. Mit der Familie sei auch seine Seele zu ihm zurückgekehrt, sagt Ali. Deutschlernen hat nun oberste Priorität. Ali und Nahed sind ehrgeizig, möchten fit für den deutschen Arbeitsmarkt werden. Doch das müssen sie sich hart erkämpfen. Wäre es nach den Behörden gegangen, hätte man die beiden Akademiker in Niedriglohnjobs gedrängt. Inzwischen kann Ali auf erfolgreiche Berufsjahre als Industriemechaniker zurückblicken. Der Maschinenbauingenieur ist zuversichtlich, seine berufliche Kompetenz bald vollumfänglich einbringen zu können. Nahed hat sich für eine Ausbildung zur Industriekauffrau entschieden. Die Firma, in der sie ihr Praxisjahr absolvierte, hat ihr prompt eine feste Anstellung angeboten. Zudem ist sie im Integrationsrat der Stadt Kirchheim engagiert. Neuankömmlinge und Stadtverwaltung können von ihrer Erfahrung profitieren.

Brücke zwischen den Kulturen

Migranten nicht als Problemfälle zu betrachten, sondern ihnen ein spezifisches Wissen zuzugestehen, ist eine Haltung, die sich nur langsam durchsetzt. Die unter dem Dach der Bruderhausdiakonie angesiedelte Beratungsstelle „CHAI“ ist diesem Konzept des „Migrationsvorsprungs“ verpflichtet. Ein wichtiger Aspekt ist die Selbstorganisation migrantischer Communitys. Das entlastet die Behörden und stärkt den interkulturellen Austausch. Bei „CHAI“ leitet Ali eine arabische Männergruppe. Gemeinsam werden Fragen zum deutschen Schulsystem besprochen und Kulturreisen nach Berlin oder an den Bodensee unternommen. Seit Kurzem ist er Vorsitzender des Vereins „Tawasul“. Mit Veranstaltungen und Austauschprogrammen will der in Kirchheim ansässige „arabisch-deutsche Kulturzirkel“ eine Brücke zwischen den Kulturen bilden.

So schließt sich der Kreis: Durch Krieg und Flucht hart errungene Erfahrungen fließen nun gewinnbringend in die Zivilgesellschaft ein.