Sandsäcke stapeln sich an der Abfahrt zur Tiefgarage an der Kirchheimer Wollmarktstraße. 150 Stück à 15 Kilo hat Familie Yurtseven befüllt, eine Notlösung – griffbereit für alle Fälle. Was Nadine und Deniz Yurtseven vor einem Jahr erlebt haben, wollen sie nicht noch einmal mitmachen. Mit Schrecken erinnern sich der Chef des Restaurants Scharfes Eck und seine Frau an das Unwetter, das vor zwölf Monaten über der Stadt tobte und ihre Tiefgarage samt Kellerräumen mit Hagel füllte. „Das Eis türmte sich so hoch“, erzählt der Gastronom und hält die Hand auf Schulterhöhe. Drei Autos hatten Totalschaden, die Kellertüren aus Metall waren eingedrückt, Heizungen und andere Elektrogeräte sowie sämtliche Vorräte zerstört. Im Sommer checken sie nun jeden Tag mindestens einmal ihre Wetter-App. Poppt eine Warnmeldung auf, verlassen sie das Haus nicht. „Wenn es nachts gewittert, stehen wir sofort am Fenster, um nachzusehen, ob alles okay ist“, sagt der 45-Jährige.
Als sich Ende Juni 2021 die Fußgängerzone binnen Minuten in einen reißenden Strom verwandelte, Hagelkörner in der Region Tausende Autos demolierten, Dachfenster einschlugen, Gärten zerstörten und Keller vollliefen, erwischte es Familie Yurtseven eiskalt. Das Wasser der halben Innenstadt fließt hier zusammen. Wenn es schüttet, schießt es vom Alleenring genauso herunter wie von der Lämmlestraße, der Herdfeldbrücke und dem Finanzamt-Parkplatz. Entlang der dortigen Schranke hat die Stadt inzwischen eine Regenrinne und einen Ablauf gebaut. „Das ging damals ruckzuck innerhalb von zwei Wochen“, erzählt Deniz Yurtseven. Doch sei der städtische Eifer in Sachen Hochwasserschutz abgeebbt. Noch immer habe sich im Bereich der Lämmle- und der Wollmarktstraße nichts getan. „Wir dürfen nicht länger das Überlaufbecken von Kirchheim sein.“
Eine hydraulische Klappe kostet 65 000 Euro
Händeringend suchen die Wirtsleute seit dem Ausnahmeereignis nach einer Möglichkeit, um sich künftig gegen eine Überflutung zu wappnen. Man müsse lernen, mit solchen Wetterextremen zu leben, sagt Deniz Yurtseven. „Wichtig ist, dass wir etwas finden, was uns schützt. Wir sind bereit, Geld zu investieren.“ Das Beste wäre der Einbau einer hydraulischen Klappe, die die Tiefgarage automatisch abriegelt. Ohne Nebenkosten wie Fundamente, Kran und Einbau kostet jedoch allein die Barriere 65 000 Euro. Alles in allem käme wohl ein sechsstelliger Betrag zusammen. „Das ist uns momentan zu viel“, sagt Deniz Yurtseven. Noch hat der Familienbetrieb die Corona-Lockdowns finanziell nicht verdaut. Und auch die bei dem Unwetter entstandenen Schäden haben ein immenses Loch in die Kasse gerissen. Nadine Yurtseven spricht von Sachschäden im Wert von 80 000 Euro, für die es noch keinen Ersatz gab. „Wir verhandeln immer noch mit den Versicherungen“, sagt sie. Die Bürokratie sei Wahnsinn.
„Die Erinnerung kommt immer wieder hoch.“
Die Inhaltsversicherung der Gaststättenpächter wollte erst gar nicht zahlen. Inzwischen hat sie rund 60 Prozent des Schadens übernommen. Gefrierschränke, Waschmaschine, Trockner, Werkzeug und das komplette Lager mit Fleisch, Gemüse und Getränken waren unter den Eismassen regelrecht begraben. Nach wie vor offen ist, ob die Gebäudeversicherung für Schäden an der Wand des Lokals und in der Küche bezahlt. „Sie sagt, das hat nichts mit dem Hagel zu tun, sondern wurde durch Wasser verursacht“, so Nadine Yurtseven. Ein Streitthema ist auch die Heizung – eine Wärmepumpe, die mit der Gastherme und der noch intakten Technik kompatibel sein muss. „Das alles verhindert, dass wir emotional mit dem Thema abschließen können“, sagt die 37-Jährige. „Die Erinnerung an das Unwetter kommt dadurch immer wieder hoch.“
Es war nicht das erste Mal, dass die Tiefgarage in der Wollmarktstraße überflutet wurde. „Es war früher auch eine Sauerei, aber das Wasser reichte höchstens bis zum Knie“, erinnert sich Deniz Yurtseven an zwei heftige Regengüsse. Doch der 23. Juni 2021 toppte alles vorher Erlebte.
Was die Familie damals an Unterstützung von Freunden und selbst von Fremden bekam, übertraf indes ebenfalls alle Erwartungen. „Leute kamen, um die Eismassen rauszuschaufeln, sie haben uns Essen angeboten und bergeweise Tischdecken gewaschen und gebügelt, und wir durften zwei Wochen lang bei den Nachbarn duschen“, erzählt Nadine Yurtseven. Wie ihr Mann ist sie noch heute überwältigt von der Hilfsbereitschaft. Der Zusammenhalt in der Nachbarschaft ist groß. Die Furcht vor einem erneuten Unwetter von ähnlichem Ausmaß wie im vergangenen Jahr allerdings auch. „Wir sind ständig in Alarmbereitschaft“, sagt Deniz Yurtseven. „Bei Gewitter ist die halbe Wollmarktstraße in Aufruhr. Dann stehen hier 15 Leute mit Besen, Gummistiefeln und in voller Montur auf der Straße.“