Es war diese Prozentzahl, die vor etwas mehr als zehn Jahren Kirchheimer Bürger, Politiker und Unternehmer schockiert hatte: 13,8 Prozent aller Kinder unter 18 Jahren leben in Kirchheim unterhalb der Armutsgrenze. Wie kann das sein in dieser wohlhabenden Stadt? Das fragten sich nicht nur Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker oder der damalige Stadtrat Willi Kamphausen. Auch der Unternehmer Willi Kopf konnte es nicht fassen und machte der Stadt kurz entschlossen ein Angebot: Er spendet drei Mal 50 000 Euro, wenn das Geld direkt den benachteiligten Kindern zugute kommt und seine Spende mindestens verdoppelt wird.
Es war der Startschuss für das Aktionsbündnis „Starkes Kirchheim“, das mit etwas Verspätung in diesen Tagen sein zehnjähriges Bestehen feiert. Dem Wunsch Willi Kopfs ist Folge geleistet worden: Mehr als 560 000 Euro an Spendengeldern sind in der Dekade zusammengekommen, allein 2018 waren es 85 000 Euro. „Es gibt Menschen, die spenden jeden Monat 1000 Euro, andere spenden 25 Euro“, erzählt Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker. Auch Unternehmen aller Größenordnungen engagieren sich auf vielfältige Weise.
„Man muss genau hinschauen“
Das Geld verwaltet die Stadt ganz unbürokratisch und lässt es gezielt Aktionen zugute kommen, dadurch geht kein Cent verloren. Denn „Starkes Kirchheim“ ist kein Verein mit eigener Verwaltung und Mitarbeitern, sondern ein Bündnis von Ehrenamtlichen. Sie sorgen zum Beispiel dafür, dass es ein Frühstücksangebot an den Kirchheimer Grundschulen gibt. Das morgendliche Essen fällt in sozial benachteiligten Familien oftmals aus - weil sich niemand kümmert, oder weil die Zeit fehlt, wenn die alleinerziehende Mutter Frühschicht arbeiten muss zum Beispiel. Auch Zuschüsse oder die komplette Kostenübernahme für Klassenfahrten oder einen Schulranzen finanziert „Starkes Kirchheim“. „Es geht um soziale Teilhabe, lange bevor dieses Gesetz bundesweit verabschiedet wurde“, sagt Angelika Matt-Heidecker, die Kirchheim bei diesem Thema in einer Vorreiterrolle sieht.
„Armut sieht man nicht auf Anhieb, man muss genau hinschauen“, sagt Willi Kamphausen, der als ehemaliger Schulleiter aus nächster Nähe mitbekommen hat, wenn Kinder aus Geldmangel immer mit den selben Anziehsachen zur Schule kamen oder hungrig im Unterricht saßen. Oder wenn sich nach Tagen herausstellt, dass ein Kind nicht zur Schule kam, weil die Familie die Wohnung verlassen musste und man aus Scham in einer Gartenlaube schlief.
Auch wenn Menschen mittlerweile in den Jobcentern Anträge auf „Leistungen für Bildung und Teilhabe“ stellen können, nehmen das längst noch nicht alle wahr. „Bei vielen gibt es noch eine große Scham, oder sie sind schlichtweg mit den Formularen überfordert“, sagt Michaela Göhler-Bald. Sie arbeitet bei der Stadt Kirchheim als Leiterin der Abteilung Bildung und gehört damit zu den wichtigen Kontaktpersonen, die unbürokratisches Handeln möglich machen.
Ein wichtiges Element ist dabei der „Stadtpass“. Er ermöglicht einkommensschwachen Familien oder Einzelpersonen Ermäßigungen für zahlreiche Einrichtungen der Stadt, wie etwa das Freibad. „Ganz wichtig ist, dass er einkommensgebunden ist, also auch Menschen mit geringem Einkommen zugute kommt und nicht nur Sozialhilfeempfängern“, sagt Willi Kamphausen. Neue Aufgaben sind mit der Zeit hinzugekommen. Seit 2015 unterstützt die Aktion auch Vorbereitungsklassen für Flüchtlingskinder.
Stadtgesellschaft ist vorbildlich
Starkes Kirchheim lebt von einer starken „Stadtgesellschaft“ in Kirchheim. „Wir hatten Besuch von Vertretern mehrerer Städte, die das auch machen wollten. Aber dort hat es nicht geklappt“, sagt Angelika Matt-Heidecker und es klingt ein wenig Stolz mit. „Es zeigt sich, dass hier Solidarität in der Stadt vorhanden ist“, ergänzt Christine Marin, die Tochter des Initiators Willi Kopf und heute eine von 16 ständigen Helfern im Team von „Starkes Kirchheim“.
Der Lohn des freiwilligen Einsatzes sind Erfolge wie diese: Wenn Kinder unterhalb der Armutgrenze aufwachsen aber dank gezielter Förderung in der Schule besser werden, dann einen Abschluss machen, eine Ausbildung beginnen und später einen Beruf ergreifen, dann sieht Christine Marin das Ziel erreicht. „Wir durchbrechen die Armutsspirale.“
Mehr Infos zu „Starkes Kirchheim“ gibt es im Haus der Sozialen Dienste unter der Email soziales@kirchheim-teck.de oder der Nummer 0 70 21/50 23 64