Anfang 2020 steuert die Welt in eine bis dahin völlig unbekannte Notlage. Fünf Jahre nach Beginn der Corona-Pandemie wollten wir von Dr. Jörg Sagasser, dem Medizinischen Geschäftsführer der Medius-Kliniken in Kirchheim, Nürtingen und Ruit, wissen: Was sind die Lehren daraus?
Herr Dr. Sagasser, was ist für Sie die wichtigste Erkenntnis aus der Corona-Krise?
Dass wir einen geschärften Blick auf das Infektionsgeschehen weltweit haben und dass wir besser vorbereitet sind auf solche Situationen. Wir wollen nicht mehr von einer Infektion überrascht werden, die eigentlich schon seit Wochen grassiert.
Was ging Ihnen damals durch den Kopf, als Sie die Bilder aus Bergamo sahen von mit Särgen beladenen Militärkonvois?
Große Sorge, dass wir das auch erleben werden. Ich war damals wie viele im Skiurlaub in dieser Woche und meine ersten Gedanken waren: Das darf nicht sein. Wie schaffen wir das?
Gab es irgendwann einen Moment, in dem Sie das Gefühl hatten, die Lage entgleist?
(Denkt lange nach) Nein. Einen Moment des völligen Kontrollverlusts hatten wir nie. Es war anfangs oft knapp, beispielsweise als das Schutzmaterial noch für zwei Tage reichte, aber wir haben es immer geschafft.
Not schweißt bekanntlich zusammen. Wie viel von diesem Spirit ist geblieben?
Wir sind heute wieder im Normalbetrieb, darüber sind wir froh. Diesen besonderen Teamgeist hat man aber schon deutlich gespürt. Jedem war klar: In der Krise gibt es keine Diskussionen, da geht es nicht um persönliche Dinge. Jeder macht das, wofür er gebraucht wird, ohne Hierarchien. Da haben Leute Tag und Nacht gearbeitet. Dass heute mal wieder jemand über zu viele Überstunden klagt, ist völlig normal. Damals spielte das jedoch keine Rolle. Nichtsdestotrotz hätte man auf diesem Level nicht ewig weiterarbeiten können. Wichtig ist für uns daher die Erfahrung: In der Krise funktioniert das Team.
Fast alle Kliniken haben während der Pandemie Personal verloren aufgrund der Dauerbelastung. Was sagt Ihnen das?
Im Ergebnis haben wir Personal gewonnen. Wir verzeichnen jedes Jahr eine zweistellige Anzahl an Zuwachs. Natürlich haben einige wenige verständlicherweise aufgehört. Die Belastung unserer Beschäftigten ist im Normalbetrieb schon hoch. Aber wir haben Personal stetig weiter ausgebaut.
Aber traf Sie die Pandemie nicht zu einer Zeit, in der bereits Personalmangel herrschte?
Natürlich gibt es einen generellen Mangel an Pflegepersonal. Personal zu gewinnen, bedeutet intensive Arbeit, und wir sind leider zum Teil immer noch abhängig von Leasing-Kräften. Generell zeigt unsere Tendenz beim Personal aber klar nach oben.
Ausreichend Reserven für eine solche Ausnahmesituation vorzuhalten, ist praktisch unmöglich. Das gilt für Schutzausrüstung, Technik und für Personal. Heißt das, die Kliniken sind auf eine ähnliche Lage kaum besser vorbereitet als vor fünf Jahren?
Nein. Wir sind wesentlich besser vorbereitet. Wir hatten damals Schutzausrüstung für den Routinebetrieb. Heute ist die Versorgung für mindestens einen Monat im Hochlastbetrieb gesichert. Auch Prozesse laufen anders ab. Ich bekomme innerhalb einer Viertelstunde unser komplettes Team in eine Videokonferenz, und jeder weiß, was er zu tun hat. Es gibt Krisenstäbe von der Landkreisverwaltung bis in die Fachabteilungen hinein. Das wäre alles sofort wieder funktionsfähig. Wir halten übrigens weiterhin einmal im Monat eine Videokonferenz zur Infektionslage im Landkreis ab. Wir, das sind Kliniken, Landkreis, Gesundheitsamt, Kreisärzteschaft und Rettungsdienste.
Abseits von Prozessabläufen, was hat Corona räumlich verändert?
Wir erweitern. Nach der ersten in Nürtingen bauen wir gerade in Ruit eine zweite Intermediate Care Station, die im Laufe dieses Jahres noch fertig werden soll. Das ist ein Bereich, der besser überwacht ist als die Normalstation, aber nicht so personalintensiv wie auf der Intensivstation. Diese wird so gebaut, dass sie auch als Isolationsstation betrieben werden kann. In unserer neuen Notaufnahme in Nürtingen gibt es zudem ein Isolationszimmer mit separatem Zugang von außen. Die nebenan liegende Station mit weiteren zwölf Patientenbetten könnte im Ernstfall ebenfalls vollständig abgeschottet werden. Das sind alles Lehren aus Corona.
Dass Kliniken, die sonst eher im Konkurrenzkampf stehen, kooperieren können, ist eine der positiven Erfahrungen aus der Pandemie.
Absolut.
Dabei hat vor allem das bundesweite Intensiv-Register, das angezeigt hat, wo noch freie Plätze vorhanden sind, gut funktioniert. Wie steht es generell um die Digitalisierung der Krankenhäuser?
Wenn man sich die Welt anschaut, dann sind wir in allen Bereichen hinterher. Wir brauchen 20 Jahre für die digitale Patientenakte, die vor ein paar Wochen angekündigt war und die jetzt Monat für Monat verschoben wird. Was sich aus der Corona-Zeit entwickelt hat, ist Tele-Medizin, insbesondere bei komplexen Fällen auf Intensivstationen. Das erleichtert fachlichen Austausch mit anderen Krankenhäusern durch telemedizinische Visiten. Mit Videoübertragung des Patienten und allen entsprechenden Daten.
Was kann KI?
KI ist so mannigfaltig, dass man aufpassen muss. Da gibt es Dinge, die sind nützlich und andere durchaus auch gefährlich.
Inwiefern?
Missbrauch, Fehlinformationen. Vor allem: Was steckt in der KI, und wo kommt die her? Pauschal lässt sich Ihre Frage deshalb nicht beantworten. Was für uns interessant ist, sind die Bereiche Diagnostik und Therapie. Wenn es beispielsweise um die Auswertung von CT-Aufnahmen oder Röntgenbildern geht. Da kann man eine KI drüberlaufen lassen, die gefüttert ist mit Zehntausenden von Vergleichsbildern und die Hinweise darauf geben kann, wo man besser nochmal genauer drauf schaut, weil da etwas sein könnte. Sie unterstützt damit bei der Priorisierung. In diesem Bereich wird sich viel verändern durch KI. Bezüglich Infektionskrankheiten fiele mir im Moment kein Thema auf Klinikebene ein.
Wie muss in einer Pandemie Kommunikation aussehen, und warum hat das nicht immer funktioniert?
Zeitnah, klar, transparent. Wenn man diese Regeln befolgt, gegenüber Mitarbeitern und Patienten, dann funktioniert es auch. Wir hatten in den ersten Tagen nach den Bergamo-Bildern ein Besuchsverbot für Patienten, die im Sterben lagen. Das haben wir dann ganz schnell korrigiert. Man muss mit den Menschen dann allerdings darüber reden, welches Risiko sie eingehen und dass sie dafür auch haften müssen. Wer Verbote ausspricht und sie nicht verständlich erklärt, hat ein Problem. Andererseits: Wenn man innerhalb von Stunden weitreichende Entscheidungen treffen muss, dann kann man nicht sauber und umfänglich kommunizieren.
Wie stehen Sie zu Impfgegnern?
Das Impfen hat uns gerettet während Corona.
Was ist die größte Schwachstelle mit Blick auf künftige Pandemien?
Dass es Länder gibt, die sich nicht frühzeitig an die Meldeverfahren halten, oder dass Herr Trump aus der WHO aussteigt (die Weltgesundheitsorganisation, Anm. d. Red.).
Am 3. März erreicht das Virus den Landkreis
Am Dienstag, 3. März 2020, hat die Corona-Pandemie auch den Kreis Esslingen erreicht. Nach den ersten Fällen im Nachbarkreis Göppingen werden bei fünf Personen in Filderstadt und Esslingen die ersten Infektionen dokumentiert. Drei davon waren nach Ende der Faschingsferien aus dem Skiurlaub in Wolkenstein im norditalienischen Grödnertal zurückgekehrt und begeben sich in häusliche Quarantäne. Ein weiteres Paar aus dem Kreis hat sich vermutlich auf einer Toskana-Reise infiziert. Wegen einer bereits zuvor bestehenden Grunderkrankung werden beide in die Medius-Klinik in Ruit eingeliefert.
Im Esslinger Landratsamt tagt an diesem Tag zum ersten Mal ein Krisenstab mit Vertretern aus Verwaltung, Gesundheitsamt, Rettungsdiensten und Kliniken. Bereits mit Wochenbeginn waren in Nürtingen und auf dem Gelände der Fildermesse die ersten Drive-in-Testzentren nach südkoreanischem Vorbild eröffnet worden. bk

