Lichterglanz, Geschenke, die Hoffnung auf ein bisschen Schnee – was Menschen mit Weihnachten verbinden, hängt von vielem ab. Von Familie, Geborgenheit, Geld, vor allem: von einer dauerhaften Bleibe und einem Dach über dem Kopf. Menschen, die all dies nicht haben, gibt es auch im reichen Kreis Esslingen. Hier leben mit rund 530 000 Menschen so viele wie fast nirgends im Land auf engstem Raum, mehr als 1500 ohne ein festes Zuhause. Mit 2,7 Obdachlosen pro 1000 Einwohnern steht der wirtschaftsstarke Flächenzwerg in der Wohnungslosenstatistik der Landkreise an der Spitze in Baden-Württemberg. Wer hier den Anschluss verliert, hat ohne Hilfe von außen kaum eine Chance. Dabei ist nicht nur Wohnraum hier fast beispiellos rar und teuer. Auch das Netz an Anlaufstellen, die soziale Unterstützung bieten, ist im Kreis Esslingen so ausgedehnt und engmaschig wie an wenigen Orten sonst im Land.
Das Problem: Wie erreicht man Menschen, die sich nicht auskennen im Hilfesystem, die häufig Sprachprobleme haben, oftmals krank sind und längst resigniert haben? „Das Thema ist sehr schambesetzt“, sagt Eberhard Haußmann. Als Geschäftsführer des Kreisdiakonieverbandes ist er gemeinsam mit der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (eva), dem Verein Heimstatt Esslingen und der Arbeiterwohlfahrt an einem Projekt beteiligt, das Wohnraumverlust vorbeugen und Betroffenen mehr Teilhabe und Orientierung im Dschungel sozialer Hilfen ermöglichen soll. Haußmann weiß: Schon am Ausfüllen eines Wohngeldantrags scheitern viele. Dass es in kommunalen Verwaltungen eine Mietschuldenberatung oder Fachstellen zur Vermeidung von Obdachlosigkeit gibt, wissen die wenigsten. Aufklären, unterstützen, zuhören – bei der Arbeit der Brückenbauer gilt: Steter Tropfen höhlt den Stein. „Wenn die erste Hürde erst einmal genommen ist,“ sagt Eberhard Haußmann, „dann ist die Erleichterung und Dankbarkeit in aller Regel groß“.
Um diese erste Hürde geht es im Projekt, das seit Oktober läuft und das 2016 schon einmal für drei Jahre finanziert wurde. Nach einem äußerst aufwändigen Bewerbungsverfahren sind die Gelder seit dieser Woche bewilligt. Diesmal sind vier Jahre Laufzeit vorgesehen. Die Hoffnung auf eine Anschlussfinanzierung ist bei allen Beteiligten groß. Es geht darum, Kontakte und Netzwerke, die bereits bestehen, zu verstetigen, um mehr Menschen in die Lage zu versetzen, zu einem selbstbestimmten Leben zurückzufinden. Dafür gibt es 1,6 Millionen Euro aus dem Europäischen Sozialfonds. Der Landkreis Esslingen ist mit jährlich bis zu 10 000 Euro beteiligt. Was dabei gerne verschwiegen wird: Die Aufgabe, die sich stellt, ist eine dauerhafte.
Sie bedeutet: Schwellenängste nehmen, die Menschen dort abholen, wo sie leben. An Orten wie dem Gaiserplatz in Kirchheim oder im Esslinger Berberdorf unter der Pliensaubrücke. Gleichzeitig bieten die Projektpartner Infoveranstaltungen für Geringverdiener, für Menschen mit Existenz-
ängsten. Vier Vollzeitstellen sieht das Projekt kreisweit vor. Die Projektleitung liegt beim Kreisdiakonieverband, der sich mit einer zusätzlichen Stelle um den Raum Kirchheim kümmert. „Wohnen ist elementar“, sagt Eberhard Haußmann. „Das hat mit Würde zu tun und letztlich auch Einfluss darauf, wie ich mich anderen gegenüber verhalte.“ An manchen Tagen ist Wohnen schlicht existenziell. Wenn wie vergangene Woche die Temperaturen in den zweistelligen Minusbereich fallen und Wärmestuben oder ein beheizter Notraum vor dem Erfrieren schützen. Was es bedeutet, kein Dach über dem Kopf zu haben, was diese Situation mit Menschen macht, ist nur schwer vorstellbar.
Familien am stärksten betroffen
Laut dem jüngsten Sozialbericht des Landkreises von 2021 sind Alleinstehende und Familien mit Kindern am stärksten vom Verlust der Wohnung betroffen. In Baden-Württemberg gilt inzwischen jedes fünfte Kind als arm oder ist von Armut bedroht. Für viele, die unverschuldet in Not geraten sind, weil die Wohnung gekündigt wurde oder der Arbeitsplatz verloren ging, ist die Lage dramatisch. Günstiger Wohnraum ist Mangelware. Vor allem für mittellose Familien gibt es hier im Kreis so gut wie keine Angebote. Wer einen ausländischen Namen trägt, erhält am schnellsten eine Absage – auch das ist Teil der Wahrheit. Die Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte im sozialen Wohnungsbau wiegen schwer. Der Krieg in der Ukraine mit inzwischen knapp 7000 Geflüchteten im Kreis verschärft die Situation zusätzlich.
Viele Notquartiere sind zudem in äußerst schlechtem Zustand. In Esslingen gibt es derzeit rund 70 Plätze für Obdachlose, vor allem im Berberdorf oder dem Aufnahmehaus in der Schlachthaus-
straße. In Kirchheim, wo Wohnungen meist in städtischer Hand über das gesamte Stadtgebiet verteilt sind, datieren die aktuellsten Zahlen vom Februar 2020. Dass die Großen Kreisstädte solche Daten nur schleppend erheben, spricht für Haußmann Bände: „Wäre das Ganze eine Erfolgsstory, würden wir davon wohl häufiger lesen.“